Luegnerin
Schweiß aus dem Gesicht. Der Pulli war aus Kunstfaser und nicht besonders schweißaufsaugend. »Trainierst du irgendwo anders?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich laufe einfach.«
»Ich hab so ein Gerücht gehört«, sagte Zach jetzt schon etwas ruhiger, sein Atem schlug nicht mehr wie ein Hackebeil in seine Worte. »Man sagt, du wärst als Junge geboren worden. Ich finde eigentlich nicht, dass du aussiehst wie ein Junge, aber du läufst ganz eindeutig wie einer. Du solltest zu den Olympischen Spielen gehen. Du bist abartig schnell!«
Ich lachte. Abartig schnell. Ja, genau so fühlte es sich manchmal an. Auf gute Weise abartig. Es gibt nichts, was ich lieber tue als Laufen.
»Machst du jemals bei Wettkämpfen mit?«
»Das war doch eben einer!« Ich lachte noch immer.
»Ich meine echte Wettkämpfe«, sagte Zach. » Wettrennen. Medaillen, Schleifen und all so was.«
Ich schüttelte den Kopf. »Zu viel Trara. Zu viele Regeln. « Ich wünschte, er würde mich noch einmal küssen. Ich überlegte, ob ich ihn küssen sollte.
»Wer bist du eigentlich?«, fragte Zach. Er richtete sich auf und wischte sich wieder übers Gesicht. »Du schwitzt ja nicht mal.«
»Ich laufe viel«, sagte ich. »Je mehr ich laufe, desto weniger schwitze ich.«
Ich beugte mich vor, wischte ihm den Schweiß von der Oberlippe und dann küsste ich ihn.
NACHHER
Fremde Feuerleitern kann man ebenso leicht hinaufklettern wie die eigene. Sie sind im Prinzip alle gleich: Der einzige Unterschied liegt darin, wie alt der Anstrich ist, ob sie stark verrostet sind und wie locker die Dübel sind, die sie in der Mauer verankern, wie viel Wäsche auf ihnen aufgehängt ist und wie viele Topfpflanzen darauf stehen.
Je höher man klettert, desto größer ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Fenster offen steht. Meistens nicht direkt an der Feuerleiter, es sei denn, jemand hat es absichtlich
für dich offen gelassen. So wie Zach es für mich getan hat. Als er noch gelebt und auf mich gewartet hat.
Diesmal ist das Küchenfenster fest verriegelt und das Metallgitter ist davorgezogen und abgeschlossen. Ich kauere auf der Feuerleiter und schaue hinein. Selbst durch ein verdrecktes Fenster und durch die Lücken zwischen den Gitterstäben und ohne dass drinnen Licht brennt, kann ich erkennen, dass dort Chaos herrscht. Sachen fliegen auf dem Fußboden herum oder stapeln sich auf dem Küchentisch, das Spülbecken ist voller Geschirr. Ich glaube nicht, dass hier irgendetwas gespült wurde, seitdem Zach verschwunden ist.
Ich wette, es riecht noch schlimmer, als es aussieht. Das kann ich selbst bei geschlossenem Fenster feststellen. Dort drinnen ist alles bedeckt von einer dicken Schicht von Trauer und Staub. Und Leere. Die Küche ist das Herz von Zachs Zuhause, aber keiner ist da.
Ich schwinge mich auf die Außenseite der Feuerleiter und setze einen Fuß auf die erste Fensterbank. Das Zimmer von Zachs Bruder. Seit er auf dem College ist, ist es eher ein Lagerraum. Oder ist das jetzt anders? Ist er nach Hause gekommen, um bei seinen Eltern zu sein? Ganz gleich, wo er ist, in seinem Zimmer brennt jedenfalls kein Licht. Und ich höre auch nichts von drinnen.
Mit einem Fuß auf der Feuerleiter und einem auf dem Fenstersims beuge ich mich vor und stütze die Fingerspitzen auf die Ziegelsteine, wobei ich mein Gewicht vom rechten auf den linken Fuß verlagere. Dann kauere ich mich hin, um zu testen, ob das Fenster offen ist.
Verriegelt.
Ich wische mir die Finger an der Hose ab und gehe
weiter auf den nächsten Fenstersims. Ich blicke dabei nicht nach unten. Nicht, weil ich Angst hätte zu fallen, sondern weil ich in der Dunkelheit meinen Gleichgewichtssinn für diese Ebene hier brauche. Meine Augen müssen sich hier oben orientieren, nicht dort unten.
Auch das Badezimmerfenster ist dunkel. Es steht einen Spaltbreit offen, aber es ist zu klein und zu hoch oben, als dass ich hindurchgelangen könnte. Dort drinnen ist auch keiner. Ich trete auf den Sims vor Zachs Zimmer. Das Fenster ist nur angelehnt. Ich kann gerade so meine Finger darunterschieben. Vorsichtig ziehe ich es auf, schwinge mich dann zuerst mit dem rechten, dann mit dem linken Bein und schließlich mit dem Rest des Körpers hindurch und lasse mich auf den Boden fallen, mitten auf einen Haufen von Zachs Klamotten.
Ich wische mir die schmierigen Hände an der Hose ab. Vogelkacke, da bin ich ziemlich sicher. Ich rieche das Phosphat. Allerdings nicht so stark wie den Geruch von Zach.
Auch ohne dass ich das
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