Luegnerin
Blöd. Ärgerlich. Und schon muss ich zurück zum Anfang des Blocks.
Aber erst, als wir im Central Park sind, entdecke ich ihn, weil er will, dass ich ihn sehe.
Ich mache die Dehnübungen, die Zach mir gezeigt hat. Meine Ferse liegt auf einem niedrigen Zaun, ich beuge mich vor, bis ich es hinten am Oberschenkel spüre. Meine Haut prickelt, aber nicht vom Dehnen, sondern von etwas anderem. Ich hebe den Blick.
Ein Pärchen liegt auf einer Decke unter einer Ulme und knutscht herum. Daneben eine Familie mit vier Kindern und einer Mutter auf einer viel größeren Decke. Die Kinder lachen. Die Älteste, mit Zöpfen, kitzelt das Kleinste;
die Mutter stellt den Kuchen außer Reichweite der zappelnden Füße des Kleinkindes.
Und dann sitzt da Brandon rauchend im Gras und grinst mich an. Er steht auf, geht auf mich zu und setzt sich auf den Zaun.
»Dehnübungen, wie?«, bemerkt er, als hätte es damit irgendeine düstere Bewandtnis.
»Was willst du?«, frage ich und wünschte sofort, ich hätte nichts gesagt. Ich sollte ihn einfach gar nicht beachten. Er will mich reizen. Aber ich will wissen, warum er hier ist. Er mag mich nicht. Ich mag ihn nicht. Wir haben uns nichts zu sagen.
Ein paar Jogger laufen an uns vorbei. Ich schaue ihnen hinterher. Sie tragen alle dieselben Shorts und T-Shirts. Gelb und grün. Ich überlege, zu was für einer Mannschaft sie wohl gehören, denn es sind keine Läufer. Ihre Technik ist total falsch. Sie heben kaum die Knie und schlenkern mit den Armen sonst wo herum und ihre Fersen treffen falsch auf den Boden.
Zach hat mir gezeigt, wie man auf den Zehenspitzen rennt. Nur ganz wenig mit den Fersen aufkommen und dann den Fuß komplett durchbiegen. Das hat mich noch schneller gemacht.
Ich fahre mit meinen Dehnübungen fort. Ich denke darüber nach, wie viel stärker ich bin als Brandon. Ich bezweifle, dass ihm das klar ist. Jungs ist das nie klar. Er sollte Angst vor mir haben. Weil ich ihn wirklich nicht mag und ich ihn verletzen würde, wenn es notwendig wäre.
Ein einzelner Läufer trabt vorbei. Diesmal ein richtiger. Ich muss mich dazu gar nicht umdrehen: Ich kann es am
Schritt erkennen, kein Schleifen und keine hämmernden Fersen.
»Du machst das viel, oder?«, sagt er. »Hauptsächlich hier.«
Ich wechsele die Beine und ignoriere den ekligen Rauch samt Brandon.
»Weil ich nämlich gehört hab, dass man seine Leiche im Central Park gefunden hat. Gar nicht weit von hier – und ich dachte, Scheiße, da ist doch Micah immer. Da wäre es doch nur wahrscheinlich, oder? Vor allem, wo sie und Zach doch so …« Er hält inne, nimmt einen langen Zug aus seiner Zigarette und bläst den Rauch in meine Richtung.
Ich muss mich dazu zwingen, weder aufzuschauen noch ihm zu sagen, dass der Central Park nicht gerade unbevölkert ist. Hunderte, nein Tausende von Leuten sind ständig hier. Bei Tag und bei Nacht. Ist er blind? Bemerkt er die Kids nicht, die hier gerade auf ihren Inlinern vorbeigesaust sind? All die Läufer? Und was ist mit der Familie auf der Decke und dem knutschenden Paar, von denen er gerade eben nicht mal zwei Meter entfernt saß? Um diese Jahreszeit findet man kaum ein leeres Fleckchen im Central Park. Selbst im Winter sind hier die Leute draußen, trampeln durch den Schnee, an kahlen Bäumen vorbei, auf der Suche nach Abwechslung von dem ewigen Beton und Stahl.
Ich möchte Brandon fragen, woher er weiß, wo Zach gefunden wurde. War es wirklich hier? Wo genau? Was weiß Brandon sonst noch? Aber wenn er es weiß, dann wissen es sicher auch noch andere in der Schule. Vielleicht kann ich es herausfinden, ohne Brandon auch nur eine Sache zu fragen.
Ich renne mit Höchstgeschwindigkeit los und weiß genau, dass er nicht mithalten könnte, selbst wenn ich einen Schritt langsamer liefe.
FAMILIENGESCHICHTE
Ich hätte gar nicht so viel dagegen, auf die Farm zu fahren, wenn meine Familie mitkäme. Na ja, okay, sie bringen mich hin – Mom und Dad und der Monsterbruder –, aber sie bleiben nicht. Nur ich. Manchmal habe ich Angst, dass sie nicht zurückkommen und ich dort für immer festsitze.
Meine Eltern haben immer eine Entschuldigung, warum sie nicht bleiben, aber es fühlt sich an, als wollten sie mich loswerden.
Dad sagt, er kann dort nicht arbeiten. So ohne Strom. Sein Laptop hat höchstens vier Stunden Akkulaufzeit. Er muss zum Arbeiten in die Stadt fahren. Mom hasst es dort. »Ich kann mich da nie richtig waschen«, sagt sie. »Das Wasser ist so kalt.«
Jordan würde
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