Luegnerin
auf den Fußboden, den Rücken gegen meinen Metallschreibtisch gelehnt, und beschloss, ihn stattdessen zu vergiften.
Ich wollte nicht, dass Mom oder Dad misstrauisch wurden.
Damals war er noch klein. Vier oder fünf. Blöd genug, dass er Abflussreiniger getrunken hätte. Ich beschloss, das Zeug in seiner Reichweite hinzustellen und ihm zu sagen, er dürfe es nicht trinken. Und dann wegzugehen.
Aber auch das habe ich nicht getan.
Nicht wegen Jordan, sondern wegen meiner Mom. Wenn ich ihn tötete, hätte es sie verletzt.
Und mich auch. Wenn man mich ertappt hätte. Wenn ich es mir so recht in Ruhe überlegte, bedeutete das, dass ich es nie tun würde.
Ich musste auf einen Unfall hoffen.
VORHER
Zach und ich, wir wurden zusammen beim Bibliotheksdienst eingeteilt.
Das ist noch so was an unserer Schule, man muss sich einbringen, der Gemeinschaft etwas zurückgeben. Die Gemeinschaft ist natürlich erst mal die Schule, was sehr schlau ist, weil das nämlich bedeutet, dass wir Schüler der Schule Geld sparen, indem wir ihre Arbeit für sie erledigen.
Meistens meldet man sich freiwillig für bestimmte Pflichten. Ich melde mich immer zum Müll-Einsammeln im Park und auf dem Gehweg vor der Schule. Alles, was sich draußen erledigen lässt.
Aber sie fordern einen auch gerne, indem sie einen dazu bringen, Sachen zu tun, die man sonst nie tun würde. So wie sie mich und Zach – wir sind beide keine Leser – dazu bringen, in der Bibliothek zu arbeiten. Bücher sortieren und so weiter.
Beim ersten Mal waren es ich, Zach, Chantal und Brandon. Ein Quartett von Nicht-Lesern. Das wäre in jeder anderen Schule nichts Besonderes, aber unsere Schule ist voller Leser. Hat mich ja nicht überrascht, dass Brandon nicht liest, er kann ja kaum sprechen, aber Chantal will Schauspielerin werden. Ich dachte immer, dass Schauspieler viel lesen. Das ist doch ihr Job, oder? Wörter zu lesen, sie auswendig zu lernen und dann laut zu deklamieren.
Aber nicht für Chantal.
Ich lese nicht, aber ich mag Bibliotheken. Ich mag Ordnung, und Bibliotheken haben sehr viel mit Ordnung zu tun. Jedes Buch hat seinen Platz. Es ist auch still dort, keine Musik.
Ich beobachtete Zach am anderen Ende, eingerahmt von Regalen, wie er Bücher einsammelte, die auf den Tischen, auf Sofas oder dem Fußboden liegen geblieben waren. Brandon half ihm. Allerdings nicht wirklich. Er versuchte ständig zu reden. Zach sagte dann »ja« oder »nein« oder grunzte nur. Er mag es, wenn es still ist. Er mag es, dass ich genauso wenig rede wie er.
Meine Aufgabe war es, die Regale nach Büchern abzusuchen, die an der falschen Stelle standen. Und davon gab
es viele. Ich hatte die Literatur. Chantal die Sachbücher. Ich hielt nach Zahlen Ausschau an Stellen, wo Buchstaben sein sollten, sie suchte nach Buchstaben, wo Zahlen sein sollten.
»Mein Wagen ist voll«, rief sie mir zu. »Wird Zeit, dass du sie einsortierst.«
Meiner war noch nicht voll, aber kurz davor. Ich schob ihn zu ihr rüber. Ihrer war noch weniger voll als meiner. Das bedeutete, dass sie nur reden wollte. Chantal hat solche Angst vor dem Schweigen, dass sie sogar mit Randerscheinungen wie mir redet.
Wir tauschten die Wagen. Ich schob ihren in Richtung der Literatur.
»Hast du gehört, dass Zach und Sarah Schluss gemacht haben?«, fragte Chantal, um mich daran zu hindern, dass ich gleich wieder abdampfte.
Hatte ich nicht. Ich hoffte, dass es nicht stimmte. Ich schaute zu ihm hinüber. Er sah nicht anders aus. Vielleicht stimmte es gar nicht. Ich schaute Chantal an. Sie nickte. »Gestern erst.«
Wir starrten beide Zach an. Ich wollte einfach nicht, dass es stimmte. Dass er mit Sarah zusammen war, machte mich und Zach überhaupt nur möglich.
»Die sind in null Komma nichts wieder zusammen«, meinte Chantal.
Hoffentlich hatte sie recht.
»Schade. Er ist echt schnuckelig. Aber die beiden halten es doch gar nicht ohne einander aus.«
Zach kniete auf dem Boden, um ein Buch unter dem Sofa hervorzuangeln. Tische und Stühle versperrten mir die Sicht, aber ich konnte seine Beine sehen, wie sich seine
Wadenmuskeln anspannten und entspannten, und seinen Haaransatz am Hinterkopf. Brandon erzählte ihm etwas. Ich hörte die Worte »Klasse« und »Scheiße« und »Nein«. Brandon quatschte gern, stellte ich fest, genauso schlimm wie Chantal.
»Er ist süß, oder?«, sagte Chantal.
»Brandon?«, fragte ich.
Sie lachte. »Nein. Zach. Ich würde auf der Stelle was mit ihm anfangen. Du etwa nicht?«
Ich nicht.
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