Luegnerin
Mir gefiel unser Geheimnis. Wenn er und Sarah wirklich Schluss gemacht hatten, dann bedeutete das, dass auch Schluss war mit unserem Geheimnis. Ich konnte mir nichts Schlimmeres denken, als wenn Chantal und Brandon und die ganze Schule über uns Bescheid wüssten.
NACHHER
Auf halbem Weg zur Schule mache ich kehrt und gehe zurück nach Hause. Ich hatte wirklich vor hinzugehen, aber während ich den Broadway überquere, verlässt mich der Mut. Die Kraft, die mich bisher aufrecht gehalten hat, schwindet. Ich kann es nicht noch einen Tag lang ertragen, angestarrt zu werden. Gerüchte und Mutmaßungen anhören zu müssen. Den Fragen von Sarah ausgesetzt zu sein. Dazu noch Unterricht, dem ich nicht folgen kann. Zach überall und doch nirgends.
Dummes Gerede über Erin.
Ich bin nicht sicher, ob ich jemals wieder zur Schule gehen kann.
Dad fliegt heute Morgen fort, er hat den Auftrag, in Ian Flemings Haus in Jamaica zu wohnen. Es ist 8.15 Uhr. Sein Flug geht um 9.00 Uhr. Trotz seiner Vorliebe für ein Check-in in letzter Minute sollte er inzwischen weg sein.
Ich weiß nicht, wann ich das letzte Mal alleine in der Wohnung war.
Jeder Schritt, den ich in Richtung Zuhause mache, ist leichter als der vorhergehende.
Ich biege um die Ecke, und da ist mein Dad, der soeben ins Taxi steigt.
Typisch Dad, so abartig spät dran zu sein. Wie will er das noch schaffen? Nun ja, wenn – also wirklich, wenn – er den Flieger verpassen sollte, dann buchen sie ihn bestimmt auf einen späteren um. Es wird eine Ewigkeit dauern, bis er hier wieder auftaucht. Aber ich könnte ihn erwürgen. Es fühlt sich an, als hätte er es absichtlich getan, um mich zu ärgern.
Als ich sicher bin, dass das Taxi fort ist, gehe ich ins Treppenhaus und steige zu unserer Wohnung hinauf. Eigentlich gefällt sie mir nur, wenn sie leer ist. Vor allem, wenn Dad gerade auf eine seiner Reisen gegangen ist. Er sagt, er kann nicht packen, wenn die Wohnung nicht ordentlich ist, also putzt er und poliert und räumt auf. So mag er es: sauber, glänzend, ordentlich. So unähnlich der Farm wie nur irgend möglich.
Das ist das Einzige, was wir zwei gemeinsam haben.
Ich gehe hinein und mache die Tür hinter mir zu.
Schließe hab. Die blöde Tussi von nebenan hat ihre Musik schon wieder laut.
Ich gehe direkt in das Zimmer des kleinen Monsters. Dort ist es weder sauber noch ordentlich. Überall liegen Spielzeuglaster und Puppen herum. Auch wenn das Monster behauptet, es wären Action-Figuren. Es macht ihn verrückt, wenn ich sie als Puppen bezeichne. Also tue ich genau das. Schließlich sind sie nichts anderes. Nachgemachte Menschen, die man anziehen und mit denen man spielen und die man verschieden ausstaffieren kann. Wie sollte man sie denn sonst nennen?
Ich fange mit den Spielzeugkisten an und durchsuche jede einzelne. Dann seine Kommode.
Und da ist es, in der zweiten Schublade, unter seinen Schlafanzügen.
Zachs Sweatshirt. Ich schließe es in die Arme. Drücke es an meine Nase.
Es riecht nicht mehr nach Zach. Es riecht nach dem Monster.
Es spielt keine Rolle, dass ich außerdem noch Zachs Trikot habe, das total nach ihm riecht. Das habe ich gestohlen. Das Sweatshirt hat Zach mir geschenkt. Es ist eine direkte Verbindung zwischen uns.
Ich werde das kleine Arschloch umbringen.
Ich nehme das Sweatshirt mit in mein Zimmer und lege es an den Ort, von dem ich weiß, dass das Monster dort niemals hingehen wird, selbst wenn er dumm genug ist, sich noch einmal in mein Zimmer zu wagen. Ich schiebe das Tuch über meinem Metallschreibtisch beiseite, hebe die Platte und lege das Sweatshirt darunter.
NACHHER
Als Brandon mir nach der Schule folgt, geht er dabei sehr viel heimlicher vor als Sarah. Was nicht schwer ist. Zuerst bemerke ich ihn gar nicht, weil ich ganz darin versunken bin, Gehwegsurfen zu spielen, und in der Bewegung der verschiedenen Luftströme dahinschwebe. Ich und mein Rucksack im freien Raum, wie wir uns um alle herumschlängeln und dem Rhythmus der Füße auf dem Gehweg lauschen. Und dabei alles vergessen, was nicht mit Schlängeln und Surfen zu tun hat. Es gelingt mir, mehrere Sekunden hintereinander nicht an Zach zu denken.
Ein Teil von mir muss wohl gespürt haben, dass Brandon mir folgt, weil ich durcheinandergerate. Ich bin nicht ganz bei der Sache. Immer wieder schätze ich Entfernungen falsch ein – knapp, nur die Spur einer Berührung –, die Zipfel eines Mantels, der meinen Rucksack streift, die hinterste Kante eines Schuhabsatzes.
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