Luegst du noch oder liebst du schon Roman
Aber muss man sich an einem freien Tag in einem alternativen
Stadtteil wie Eimsbüttel in einen grauen Anzug werfen? Das ist so furchtbar spießig!
Nummer zwei ist Musiker, was ich grundsätzlich ganz sympathisch finde. Allerdings müffelt er, und ich möchte nicht wissen, wie lange seine Pseudo-Dreadlocks kein Shampoo mehr gesehen haben.
Kandidat drei ist gestandener Einzelhandelskaufmann und garantiert mir tolle Rabatte, für den Fall, dass wir mal zusammen kochen. Soll ich etwa zuerst Umsatz bei ihm machen und dann noch für ihn kochen? Nein danke, so habe ich mir das nicht vorgestellt.
Nummer vier bis neun sind ebenfalls keine Offenbarung, obwohl ich Stefan, Museumskurator, sympathisch und interessant finde.
Je länger das Spiel dauert und je weniger geeignete Kandidaten in Sicht sind, desto lockerer werde ich. Ich freue mich jetzt schon diebisch bei der Vorstellung, welch wunderbare Anekdoten ich ab sofort zum Besten geben kann. Und weil ich so in Fahrt bin, versäume ich glatt die Ankunft von Nummer zehn.
Doch als ich ihn schließlich anblicke, setzt mein Gehirn einen Moment aus, mein Herzschlag sowieso, und reflexartig übernehmen meine Hormone die Regie. Der Alfa-Mann!
Und ehe Oliver (ich glaube zumindest, dass er sich mit diesem Namen vorgestellt hat) auch nur eine einzige Frage stellt, tische ich ihm auch schon ein Märchen auf, für das ich mich später mit Sicherheit schämen werde: Ich bin eine unabhängige, ungebundene, erfolgreiche Geschäftsfrau, die diese Veranstaltung hier just for fun
besucht. Ich werfe mein Haar in den Nacken, lache kokett, klimpere mit den Wimpern - und bin mir alles in allem komplett fremd. Oliver scheint jedoch völlig beeindruckt von meiner Darbietung zu sein. Erst kurz vor Schluss fällt mir ein, dass ich ja noch gar nichts von ihm weiß. So bleibt ihm nichts anderes übrig, als sich und seine Person im Schnelldurchlauf abzuhandeln. Es würde mich nicht wundern, wenn gleich Musik ertönt und sie immer lauter wird, wie bei Preisverleihungen, wenn die Preisträger zu lange reden. Bevor jedoch das Pling unserem Date ein abruptes Ende bereitet, erfahre ich noch, dass Oliver alleinerziehender Vater einer sechsjährigen Tochter namens Lucia ist. Im Gegensatz zu mir mit meiner getürkten Vita gibt er offen zu, finanziell nicht besonders gut gestellt zu sein und auch sonst keinen leichten Stand im Leben zu haben. Bewundernswert!
10
Irgendwas läuft hier gewaltig schief!
OLIVER KRAMER -
SONNTAG, 23. MAI, SPEED-DATING-TAG
Gelangweilt schlendere ich durch die Räume des Hubertus-Wald-Forums, eines Teilbereichs der Hamburger Kunsthalle.
Nina hat erreicht, dass ich beginne, meine Aufgabe als Autor ernst(er) zu nehmen. Und genau deshalb hake ich heute auch tapfer die beiden letzten Punkte auf meiner Flirt-To-do-Liste ab und besuche eine Ausstellung mit dem gewichtigen Titel »Intimität und Pose«. Es werden Bilder, Zeichnungen und Skulpturen des berühmten französischen Malers und Bildhauers Edgar Degas gezeigt. Da Herr Degas sich auf das Sujet des Balletts versteift hat, ist der Anteil der weiblichen Ausstellungsbesucher erwartungsgemäß hoch, womit meine Flirtchancen gut stehen.
Doch anstatt mir eine geeignete Strategie zu überlegen, ertappe ich mich dummerweise dabei, eine Gruppe junger (und ziemlich knackiger!) Frauen zu beobachten, die vor den Tänzerinnen-Skulpturen in der Mitte des Raums stehen und eifrig zeichnen. Ich pirsche mich an
eine Blondine heran, die ihr Feenhaar zu einem wirren Knoten geschlungen hat, der einen wunderbaren Blick auf ihren zarten Nacken freigibt - ein Elfenwesen, das bestimmt selbst Ballett tanzt. Ich mag gar nicht daran denken, wie vorteilhaft diese körperliche Biegsamkeit in gewissen Situationen sein könnte …
Diese Assoziation scheinen Tänzerinnen-Körper nicht nur bei mir hervorzurufen. Wie der im Nebenraum laufende Film über Degas mich lehrt, gab es Ende des achtzehnten Jahrhunderts vermögende Herren, die zusammen mit ihrer Ballett-Loge eine junge Kokotte mieteten. Daher stammt auch der Ausdruck »Ballettratte«. Damit sind, wie ich nun weiß, keine grauen Nager gemeint, sondern vielmehr Mädchen aus den Elendsquartieren von Paris, die hungrig und abgemagert an der Oper anheuerten, um dort für wenig Geld zu tanzen und einem reichen Abonnenten zu Diensten zu sein.
Ich schüttle den deprimierenden Gedanken an ein Leben in derartiger Armut ab und konzentriere mich auf meine Aufgabe. Quatsche ich nun die Blondine an oder eher
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