Lukkas Erbe
die Ansicht, er sei unberechenbar und deshalb in der Anstalt bestens aufgehoben, habe vielleicht doch irgendwie seine Finger im Spiel gehabt, weil er doch ständig bei Lukka herumgelungert hatte.
Auf dem Lässler-Hof, wo er früher jederzeit willkommen gewesen war, durfte er sich nun nicht mehr blicken lassen. Die Familie verkraftete den Verlust der jüngsten Tochter nicht.
Paul Lässler hatte sich Brittas Obduktionsbericht aushändigenlassen und kümmerte sich um nichts mehr, seit er gelesen hatte, wie sie gestorben war. Die Schweine im Stall mochten vor Hunger quieken, Paul saß reglos auf einem Stuhl am Küchenfenster, als wäre er taub geworden. Von diesem Platz hatte er die Hofeinfahrt im Blick. Er schaute hinaus, als warte er darauf, seine «Kleinen», wie er Britta und Tanja Schlösser genannt hatte, auf ihren Rädern in den Hof fahren zu sehen.
Brittas Mutter, die starke, tüchtige, unerschütterliche Antonia, war am Ende ihrer Kraft. Einen winzigen Halt fand sie nur noch bei der älteren Tochter Annette. Aber unzählige schlaflose Nächte machten sich bemerkbar. Die ungelebte Trauer forderte ihren Tribut.
Sie bemühte sich verzweifelt, ihre Familie zusammenzuhalten und zurückzuführen in einen normalen Alltag. Das war unmöglich. Zu Paul drang sie nicht mehr durch. Sechsundzwanzig Jahre Ehe, nie ein ernsthafter Streit, nie ein böses Wort. Jetzt sprach Paul gar nicht mehr, und wenn er sie anschaute, war so viel Leere in seinem Blick, dass Antonia sich abwenden musste.
Der älteste Sohn Andreas kam zweimal in der Woche vorbei mit seiner Frau Sabine. Aber selten blieben sie länger als eine Viertelstunde. Meist sagte Andreas schon nach zehn Minuten: «Sei mir nicht böse, Mama. Mir ist gerade eingefallen, dass ich noch etwas Wichtiges zu erledigen habe.»
Vergessen konnte man einmal eine wichtige Erledigung, nicht zweimal in der Woche. Antonia vermutete, dass ihr Ältester nur bemüht war, für sich und seine junge Frau ein bisschen Zukunft zu retten. Um ihn sorgte sie sich nicht, aber um ihren zweiten Sohn Achim.
Achim hatte nie viel Glück gehabt mit Frauen. Seine letzte Freundin hatte keinen Hehl daraus gemacht, dass ein Leben auf einem Bauernhof für sie nicht infrage kam.Trotzdem hatte er gehofft, sie eines Tages umstimmen zu können. Aber dann hatte sie Brittas Tod zum Anlass genommen, sich endgültig von ihm zu trennen.
Seitdem erledigte Achim nur noch die nötigsten Arbeiten im Schweinestall, mehr nicht. Fast jeden Abend verließ er das Haus und war die ganze Nacht unterwegs auf der Suche nach einem Menschen, dem er für den Tod seiner Schwester und sein damit verbundenes Elend die Seele aus dem Leib prügeln konnte. Antonia verging fast vor Sorge, dass er sich zu etwas hinreißen ließ, was nicht wieder gutzumachen wäre.
Im vergangenen Jahr hatte sie noch große Hoffnungen auf Tanja gesetzt, die bei ihnen aufgewachsen war. «Vielleicht hilft es Paul, wenn er wenigstens eine zurückbekommt. Vielleicht besinnt er sich und fängt wieder an zu arbeiten. Und wenn sein Vater mit gutem Beispiel vorangeht, kommt vielleicht auch Achim wieder zur Vernunft.»
Im Dezember 95 hatte Antonia das Mädchen dann kurzerhand aus der Klinik geholt, ohne die Ärzte oder sonst wen um Erlaubnis zu fragen, eine regelrechte Entführung, viel zu früh. Tanja hatte schwerste Verletzungen davongetragen, ihr mussten die Milz, der rechte Lungenflügel und große Teile des Dünndarms entfernt werden. Sie hätte noch lange ärztliche Betreuung gebraucht.
Gebracht hatte Antonias Verzweiflungstat nicht viel. Tanja ging es sehr schlecht. Und Paul saß nun die meiste Zeit neben der Couch im Wohnzimmer oder neben dem Ehebett, in dem jetzt auch Tanja schlief. Zweimal in der Woche fuhr Paul sie zur Nachbetreuung ins Lohberger Krankenhaus. Und wenn die Ärzte auch nur andeuteten, Tanja könne stationär besser versorgt werden, ging Paul Lässler ihnen beinahe an die Kehlen.
Der einzige Mensch, mit dem Antonia über ihre Nötesprechen konnte, war Bruno Kleu, der die zum Schlösser-Hof gehörenden Ländereien gepachtet hatte, nachdem Bens Vater die Landwirtschaft aufgeben musste.
Bruno Kleu gehörte einer der großen Höfe. Er war Jahrgang 51, hatte zwei eheliche und zwei uneheliche Söhne. Verheiratet war er mit der sanften, stillen und duldsamen Renate, mit der er sich irgendwann arrangiert hatte. Das heißt, Renate Kleu hatte sich damit abgefunden, dass ihr Mann sie nicht lieben konnte. Geliebt hatte Bruno – wie Heinz Lukka
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