Lukkas Erbe
Reisen, etwas zu sehen von der Welt, ehe er für immer die Augen schloss. So hatte er es ausgedrückt, nun waren sie geschlossen.
Es herrschte eine merkwürdige Stimmung in der Kanzlei, so bedrückend und grau wie der Himmel draußen. Einer der jungen Anwälte, die er zu seiner Entlastung eingestellt hatte, war nicht mehr da. Der andere begrüßte sie mit unbewegter Miene und erklärte, noch während er ihr aus der Jacke half, dass sie nicht Alleinerbin sei. Das kümmerte sie nicht, sein Vermögen hatte sie nie interessiert, nur er, der einzige Mensch, dem sie wirklich etwas bedeutet hatte. Und dass er tot sein sollte …
Seine langjährige Sekretärin, an die Miriam Wagnersich noch flüchtig erinnerte, gab nur zögernd Auskunft über seine letzte Ruhestätte. Ein anonymes Urnengrab auf dem Lohberger Friedhof.
«Warum wurde er nicht im Dorf bestattet?», fragte sie.
Es gab ein Familiengrab, in dem seine Eltern lagen, das wusste sie genau. Er hatte häufig davon gesprochen, dass er darin beigesetzt werden wollte. Im ersten Moment dachte sie, er hätte ein Grab in Lohberg gewählt, damit sie ihn besuchen konnte. Ins Dorf fuhr sie nicht. Sie hätte an dem Alleebaum auf der Landstraße vorbeifahren müssen, der ihre Mutter das Leben, sie selbst das Gesicht und die Zukunft gekostet hatte. Aber anonym, das passte nicht zu diesem Gedanken.
«Das hielten wir nicht für sinnvoll», antwortete die Sekretärin, brachte noch Kaffee für alle und verließ den Raum so eilig, als fürchte sie sich vor weiteren Fragen.
Es saß bereits ein Paar im Büro, Jakob und Frau Doktor Anita Schlösser. Die Namen waren Miriam geläufig. Jeden Monat hatte Heinz Lukka ihr einen langen Brief geschrieben. Und statt ausführlich über sich hatte er über das Dorf berichtet, das beinahe ihre Heimat geworden wäre, über die Sorgen und Nöte der Einwohner, ihre Beziehungen zueinander, freundschaftliche Bande und familiäre Stricke, Verpflichtungen und Verbindlichkeiten. Sie kannte jeden, der in den Blutsommer verwickelt oder davon betroffen gewesen war, nur dem Namen nach, dafür mit sämtlichen Beziehungen und Verflechtungen im Dorfgefüge.
Besonders oft hatte Heinz Lukka die Familien Lässler und Schlösser erwähnt, sich über die langjährige Freundschaft ausgelassen mit einem Hauch von Schwermut zwischen den Zeilen, weil sie aus ihm unerfindlichen Gründen auf ihn herabschauten. In einem Brief hatte er versucht, ihr den ältesten Lässler-Sohn Andreas schmackhaftzu machen. Er war sehr enttäuscht gewesen, dass sie nichts unternahm, Andreas Lässler kennen zu lernen, und dieser Sabine Wilmrod heiratete, die einzige Tochter des Mannes, dem der Baumarkt in Lohberg gehörte. Auch Achim Lässler, der so viel Pech mit seinen Freundinnen hatte, und Lukkas Erzfeind Bruno Kleu wurden oft erwähnt. Von «meinem Freund Ben» war in jedem Brief die Rede.
Als agiles, bemerkenswertes Kerlchen hatte Heinz Lukka ihn oft bezeichnet und sich darüber amüsiert, dass weder sein Vater noch sonst jemand ihn zu sinnvoller Arbeit anhalten konnte.
Kerlchen, darunter stellte Miriam sich ein schmächtiges Wesen vor, geduckte Haltung, den typisch debilen Ausdruck im Gesicht, ein bedauernswertes Geschöpf. Nun fiel diesem Geschöpf ein stattliches Wertpapierdepot zu – mit einer kleinen Einschränkung, die sie nur am Rande registrierte –, zur Verfügung bis zum Tod. Danach sollte eine gemeinnützige Einrichtung zur Förderung Behinderter in den Genuss der Wertpapiere kommen.
Das Geschäftshaus in Lohberg ging an sie und garantierte ihr eine sorgenfreie Zukunft in finanzieller Hinsicht. Doch in dieser Hinsicht hatte sie sich bisher keinen Gedanken zu viel gemacht. Sie lebte noch bei ihrem Vater, natürlich auch von ihm. Darüber hinaus hatte Heinz Lukka sie in all den Jahren großzügig unterstützt, ihr jeden Wunsch erfüllt, auch einen kostspieligen Wagen. Trotzdem beschwerte Miriams Vater sich oft, dass sie keine Anstalten machte, einen Beruf auszuüben. «Andere in deinem Alter …» Das hörte sie mindestens dreimal in der Woche. Ihn würde es freuen, dass sie nun über stattliche Mieteinkünfte verfügen konnte.
Im Erdgeschoss des Hauses lagen die Anwaltskanzlei und die Praxis eines Orthopäden. Im ersten Stock praktiziertenein Internist und ein Zahnarzt, im zweiten Stock ein Kinderarzt und ein Gynäkologe, im Dachgeschoss ein Augenarzt und ein Hals-Nasen-Ohren-Arzt. Nur Ärzte.
«So kann ich mir einbilden, dass ich dazugehöre», hatte Heinz
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