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Lukkas Erbe

Lukkas Erbe

Titel: Lukkas Erbe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Petra Hammesfahr
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Küchentisch, die zusammengehefteten Seiten vor sich, schaute zu, wie er aß, und fand, es wäre ein großes Unrecht, das Attest eines Arztes beizubringen und sich damit vor der Strafe zu drücken. Was waren einige Monate im Gefängnis gegen die Endgültigkeit, zu der die beiden jungen Frauen und Britta Lässler verurteilt worden waren?
    Nachdem sein Teller leer war, erhob sich Trude, trug die Anklageschrift ins Wohnzimmer, legte sie dort in den Schrank zu den anderen wichtigen Papieren und sagte: «Geh rauf und zieh eine gute Hose an. Jetzt besuchen wir die Mädchen, wir gehen zu Britta und zünden ein Licht an für sie.»
    Es war das erste Mal seit seiner Heimkehr, dass sie mit ihm ins Dorf ging. Bis dahin war sie selbst nicht mehr im Ort gewesen. Sie rechnete damit, dass es ein Spießrutenlaufen würde. Aber es gab auf den Straßen nur ein paarverwunderte Blicke. In Lederjacke und Flanellhose hatte man Ben zuvor noch nie gesehen. Niemand sprach sie an. Unbehelligt erreichten sie den Friedhof.
    Zuerst führte Trude ihn an Marlene Jensens Grab. Die Blumengebinde und Kränze waren längst verwelkt und abgeräumt, die Inschrift auf dem schlichten Holzkreuz lag frei.
     
    Marlene Jensen
    *25.   4.   1978
    † 13.   8.   1995?
     
    Bruno Kleu hatte sich über das Fragezeichen sehr aufgeregt. Nur weil Lukka sich einen ganzen Tag Zeit mit Britta gelassen hatte, müsse er mit ihrer Cousine nicht ebenso verfahren sein. Beinahe hätte Trude ihm widersprochen, war aber dann noch geistesgegenwärtig genug, ihre Vermutungen darüber, wie lange seine Tochter hatte leiden müssen, Bruno zu verschweigen.
    Die beiden Finger, die Ben etliche Tage nach Marlene Jensens Verschwinden in seinem Zimmer versteckt hatte, waren relativ frisch gewesen. Daraus schloss Trude, dass Lukka sich mit Marlene Jensen entschieden mehr Zeit gelassen hatte als mit Britta. Das hatte er sich ja auch leisten können, da es allgemein hieß, Marlene sei nur ausgerissen, um einem Hausarrest zu entkommen. Erst als Britta verschwand, hatte das Dorf Kopf gestanden.
    Fast eine Viertelstunde lang stand Trude mit Ben da, konnte nicht denken, nicht beten, nicht einmal die Hände zusammenlegen und so tun, als sei sie in stillem Gedenken versunken. Er trat unruhig neben ihr von einem Fuß auf den anderen, schaute sich suchend um und fragte mehrfach: «Fein?»
    Als Trude es endlich registrierte, führte sie ihn weiter an Britta Lässlers Grab. Dort wurde es für sie unerträglich. Der schlichte Blumenschmuck und der weißeGrabstein mit der goldenen Inschrift schnürten ihr die Luft ab.
     
    Hier ruht
    – grausam aus unserer Mitte gerissen –
    unsere geliebte Tochter
    Britta Lässler
     
    Im Geiste sah Trude die Kleine mit ihrer eigenen Tochter an einem Planschbecken spielen. Sah Antonia mit dem Baby Britta im Arm im Schlafzimmer an Tanjas Wiege stehen, hörte sie fragen: «Und weggeben willst du Ben nicht? – Dann nehm ich das Baby mit.» Sie und Jakob hatten so tief in Pauls und Antonias Schuld gestanden. Und wäre sie nicht gar so beschäftigt gewesen mit ihren Zweifeln und dem Verdacht gegen den eigenen Sohn   …
    Natürlich hatte Trude ihn verdächtigt, nicht mit dem Herzen, aber mit dem Kopf. Es hatte so ausgesehen, als gäbe es keine andere Möglichkeit, als er all diese blutigen Teile nach Hause brachte. Sie betrachtete ihn von der Seite. Sein gesamter Körper schien in Bewegung, obwohl er sich nicht vom Fleck rührte, als zuckten tausend Muskeln unter der Haut. Und so war es schon die ganze Zeit, seit er zurück war.
    Aber wohin war er denn zurückgekommen? Heimholen, das sagte sich leicht, es war nur ein Wort. Daheim war mehr als ein Dach über dem Kopf, eine Mahlzeit auf dem Tisch und ein Bett für die Nacht. Er war im Feld daheim gewesen, im Bendchen, im Bruch, auf dem Lässler-Hof. Ein Kind war er gewesen, in Gummistiefeln und Trainingsanzug, ein Kind, das sich am Leben freute und sich um alles Lebendige sorgte. Jeden Grashalm gehegt, jede Distel gepflegt, keinen Käfer zertreten und die toten Mädchen gesammelt wie die toten Mäuse, ohne zu wissen, dass es ein Unrecht war.
    Wie er da neben ihr stand, in der Flanellhose und der Lederjacke über einem Polohemd, war er nur ein Besucher in einer fremden Welt, deren Gesetze er nicht verstand. Und wieder kamen Trude große Zweifel, ob sie das Richtige getan hatte, als sie ihn zurückholte. Ob es nicht besser für ihn gewesen wäre, ihn bei den Ärzten und Pflegern zu lassen, die ihm beigebracht hatten,

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