Lukkas Erbe
Halt, stieg über die aufgeworfene, mannshohe Kante in die Senke, ließ sich zwischen die Trümmerberge ins hohe Gras fallen und gleichzeitig tief in die Bilder von Blut, wie er sie von Lukka kannte. Zum ersten Mal verschaffte er sich damit ein wenig Erleichterungund vertrieb so die Furcht, die Rita Meier in ihm ausgelöst hatte.
Nach einer Weile stand er wieder auf, lief im Bruch umher, betrachtete die Steine vor dem Eingang zum alten Gewölbekeller. Eine morsche Stiege führte hinab in ein dreckiges, finsteres Loch. Aber so sah er es nicht, er sah nur einen verschwiegenen Platz. Wenn er Decken herschaffte und Licht, Steine vor den Eingang häufte, konnte er Rita Meier herbringen, oder irgendeine andere Frau aus irgendeinem Haus. Niemand würde ihn stören.
Er stieg die Bruchkante wieder hinauf und lief den ganzen Weg zurück. In weitem Bogen vorbei am Lässler-Hof. Er bog in den breiten Weg ein, wollte weiterlaufen, bis ihm irgendeine Frau begegnete oder er irgendeine Tür offen fand.
Die offene Tür fand er schon knapp dreihundert Meter hinter der Apfelwiese. Die Frau hieß Vanessa Greven, sie war fünfunddreißig Jahre alt, lebte als Hauswirtschafterin, Assistentin und Geliebte mit Leonard Darscheid zusammen, einem Künstler, der vor Jahren den ehemaligen Lässler-Hof an der Bachstraße gekauft und die Scheune zu einem großzügigen Atelier ausgebaut hatte.
In Fachkreisen genoss Leonard Darscheid einen ausgezeichneten Ruf. Im Dorf wusste man nur, dass er malte und etwas mit Holz machte. Er war zweiundsiebzig Jahre alt, wirkte mit seinem vollen, schlohweißen Haar jedoch gute zwanzig Jahre jünger. Oft war er für mehrere Tage, sogar Wochen unterwegs. Er bestückte Ausstellungen in ganz Europa, begleiten mochte Vanessa Greven ihn nicht, weil sie ihre Perserkatze nicht längere Zeit allein lassen und das Tier auch nicht mit in Hotels nehmen wollte. In der Nacht war Leonard Darscheid in Paris, Vanessa Greven allein mit ihrer Katze.
Auf dem ehemaligen Lässler-Hof kannte der Mann jedenWinkel. Auch wenn vieles verändert worden war, die Grundrisse waren geblieben, und er hatte sie alle im Kopf.
In der milden Nachtluft standen die rückwärtigen Türen des Ateliers weit offen. Wenige Meter vom Weg entfernt. Vanessa Greven arbeitete noch an einer kleinen Holzplastik. Zwischen dem Atelier und dem Weg war Rasen angelegt, auf dem Ziersträucher und Steinplastiken standen, die ihm Deckung boten. Die Dunkelheit tat ein Übriges.
Er stand so plötzlich neben Vanessa Greven, dass ihr die Figur aus der Hand fiel. «Mein Gott», sagte sie und fasste sich vor Schreck an die Brust. Er schwieg, hielt ihr nur das Messer entgegen.
«Bitte nicht», flüsterte sie. «Steck das Messer ein, du brauchst es nicht. Ein junger Mann wie du braucht doch kein Messer.»
Er steckte es nicht ein, schloss die Außentüren und bedeutete ihr mit Gesten, das Atelier zu verlassen. Wenn noch jemand auf dem Weg vorbeikam, ausschließen durfte man das nie, man hätte ihn mit der Frau sehen können.
Mit dem Messer in der Hand trieb er sie vor sich her über den Innenhof ins Wohnhaus und hinunter in den Keller. Dort war noch fast alles so, wie er es kannte. Die Veränderungen waren unbedeutend. An der Stelle, wo früher eine Kartoffelkiste gestanden hatte, war nun ein Weinregal angebracht.
Aber er sah die Kiste noch deutlich vor sich, erinnerte sich, dass er als Kind oft Kartoffeln herausgenommen und seiner Mutter gebracht hatte. Er sah das Gesicht seiner Mutter, ihr liebevolles Lächeln. Er hörte ihre Stimme mit dem besorgten Unterton: «Wo hast du dich wieder herumgetrieben?» Und plötzlich wurde alles andere unwichtig, sogar die Frau, die er mit dem Messer bedrohte.
Abschied
Am 6. Mai 96, nicht ganz sieben Wochen nach Bens Heimkehr, kam kurz vor Mittag das Schreiben von den Justizbehörden, dem Jakob Schlösser mit Bangen entgegensah. Die Anklageschrift. Begünstigung einer Straftat nach Paragraph 211 des Strafgesetzbuches. Das erste Opfer des Sommers, die siebzehnjährige Svenja Krahl aus Lohberg, war nicht angeführt. Aber für Trude reichten die drei anderen.
Es war nur eine Kopie, weitergeleitet vom Büro ihrer Anwältin, «zur Kenntnisnahme» stand auf einem kleinen Begleitzettel. Trude las alles gründlich durch, und so schwarz auf weiß, in der nüchternen Juristensprache war es viel schlimmer. Essen konnte Trude danach nicht mehr. Sie hätte ihre Anwältin anrufen müssen. Das konnte sie auch nicht.
Sie saß nur da, mit Ben am
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