Lukkas Erbe
Unterfangen. Mit zurück ins Dorf fahren wollte Ben nicht.
Er hob seine Mutter aus dem Sarg, nachdem sie das Bestattungsinstitut erreicht hatten. Er stand dabei, als Trude gewaschen und angekleidet wurde, beäugte misstrauisch die fremden Hände, die ihr Haar richteten und etwas Schminke auf den blassen Wangen verrieben. Er streichelte ihr Gesicht und rieb die Schminke damit wieder ab, streichelte ihr Haar und brachte die Frisur wieder durcheinander. Er legte sie zurück in den Sarg. Dann kroch er wieder auf die Ladefläche und begleitete sie zur Leichenhalle.
Drei Tage und Nächte saß er bei ihr in der Kälte und wartete darauf, dass sie die Augen wieder aufschlug, ihn anlächelte.
Bruno fuhr zweimal täglich hin, brachte ihm etwas zuessen, zu trinken, einen warmen Pullover, vergewisserte sich, dass er seine Notdurft nicht in einer Ecke verrichtete, und fragte sich mit Schrecken, wie sie Trude unter die Erde bringen sollten.
Seltsamerweise gab es damit kein Problem. Nach drei Tagen hatte Ben begriffen, dass er vergebens auf ein Lächeln und eine Bewegung hoffte. Endlich gestattete er, dass der Sarg geschlossen wurde. Der Bestattungsunternehmer konnte gut mit ihm umgehen und fand immer die richtigen Worte.
Er führte ihn an das frisch ausgehobene Grab – unmittelbar neben Brunos Tochter Marlene – und erklärte: «Jetzt müssen wir den Deckel aber zumachen, sonst fällt deiner Mutter der Dreck ins Gesicht.»
Und dann fand auch Bruno die erlösenden Worte. «Na komm, Kumpel, so kannst du doch nicht in der Kirche sitzen, du stinkst. Wir fahren jetzt nach Hause, du gehst unter die Dusche und ziehst dir was Feines an. Dann nehme ich dich mit. Wir haben ein Zimmer für dich, ein schönes, großes Zimmer. Beim Vater kannst du nicht bleiben.»
Von all den Worten verstand Ben einen Satz ganz genau.
Nehme ich dich mit
. Er war so erleichtert, dass er nicht zurückmusste zu den weißen Leuten, klopfte Bruno auf die Schulter, wie es sonst umgekehrt der Fall war, und sagte: «Freund.»
«Nein», widersprach Bruno. «Ich bin nicht dein Freund. Wenn ich das Wort nur höre, dreht sich mir der Magen um. Dein Freund war ein Scheißkerl, ein elender Sadist, wie man so schnell keinen zweiten findet.»
«Kumpel?», fragte er klar und deutlich.
Das erste neue Wort aus seinem Mund. Bruno lächelte erstaunt und zufrieden. «Na, wer sagt’s denn, es geht doch. Man muss es dir nur oft genug vorkauen, was?»
Bei der Trauerfeier saß Ben in der ersten Reihe auf der linken Seite bei der Familie Kleu.
Es war eine armselige Beerdigung, aber das sah er anders. Dass kaum jemand aus dem Dorf seiner Mutter das letzte Geleit gab, störte ihn überhaupt nicht. Große Menschenmassen waren ihm suspekt. In dem kleinen Grüppchen, das nur schweigend beieinander stand, während der Pfarrer ein paar Worte über Aufopferung für die Familie, die unergründlichen Wege des Herrn und den ewigen Frieden verlor, konnte er sich in Ruhe auseinander setzen mit dem Geschehen.
Er sah Blumen, brennende Kerzen und Feierlichkeit. Er sah, dass seine Mutter nicht in der nackten Erde liegen musste wie die Mädchen. Sie lag in dieser schönen Kiste auf weichen Kissen. Und dann wurde die Kiste in das tiefe Loch gelegt.
Die Endgültigkeit des Todes hatte er nicht begriffen, war nach wie vor davon überzeugt, dass auch sie eines Tages zurückkam. Aber er verstand, welche Bedeutung dem Ort mit den Steinen, Lichtern und Holzkreuzen zukam. Dass auch wir einen Platz hatten, an dem wir sie verwahrten, wenn sie sich nicht mehr bewegten. Einen Platz ohne Stacheldraht oder dorniges Gestrüpp.
Er sah ein, dass wir doch die Klügeren waren, und begann zu ahnen, warum ich die Mädchen hatte haben wollen. Damit sie wie seine Mutter bequem liegen durften und nicht die Erde im Gesicht haben mussten. Damit sie sauber waren, wenn die Männer mit den Leitern und dem Korb kamen. Und damit ihre Mütter sie bis dahin besuchen konnten, ohne sich die Hände an Stacheldraht oder Dornen aufzureißen.
Er wusste, dass es sehr lange dauern konnte. Er wusste auch, dass wir nicht sehr geduldig waren. Damit wurden ihm die Warnungen vor dem Lässler-Hof verständlich.Ein Licht anzünden für Britta! Wenn Paul, Antonia und Achim nun sehr lange auf Britta warten mussten, gab es einen Grund, dass sie böse waren.
Aber was war mit seiner kleinen Schwester geschehen? Lag sie vielleicht an dem Platz, an den seine Mutter ihn geführt hatte, ehe sie zu Britta gegangen waren? Nur hatten sie an
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