Lukkas Erbe
wollte.
«Weg», sagte er mit der Hand an der Brust.
Miriam Wagner verstand die Geste völlig falsch. «Nun mach dich nicht verrückt, es wird nicht gleich ein Herzinfarkt sein. Ihm ist bestimmt nur übel geworden. Komm.» Sie hatte nach seinem Arm gegriffen, ehe ihr bewusst wurde, dass sie ihn anfasste. Als ihr auffiel, dass sie ihn vorwärts schob, waren sie bereits im Wohnzimmer – ungefähr an der Stelle, an der Lukka gelegen haben musste.
Ben stockte, schaute sich um. In seine Resignation mischte sich ein wenig Neugier. Es sah alles so anders aus. Er ließ den Blick über die neue Einrichtung wandern, betrachtete den hellen Teppich. «Freund?»
«Verstehe ich das richtig, du möchtest mein Freund sein?» Sie lachte kurz auf und ließ seinen Arm los. «So war das aber nicht gemeint.»
Sie verstand es auch nicht richtig, er nickte trotzdem,wollte gerne ihr Freund sein. Sie sah ein bisschen aus wie seine kleine Schwester. Und wenn sie nicht schimpfte, ihn freundlich ins Haus bat, vielleicht durfte er bei ihr bleiben, wenn Bruno ihn nicht mehr sehen wollte.
Sie trug eine kurze Hose. So weit war sie inzwischen, musste ihre Narben vor Nicole nicht mehr verstecken. Er registrierte die tiefen Dellen im Fleisch ihres Oberschenkels, wusste nichts vom Stolz einer zutiefst verletzten Frau, kannte keine Scheu, etwas genau zu bezeichnen. Er zeigte auf ihr Bein. «Weh?», fragte er.
«Nein, es tut nicht mehr weh», sagte sie. «Es sieht nur noch hässlich aus.» Sie zeigte zu den offenen Terrassentüren. «Setz dich draußen hin.» Sie konnte nicht länger mit ihm im Wohnzimmer stehen, nicht an dieser Stelle, wo Lukka gestorben war.
Er ging ins Freie. Auf dem Tisch stand noch das benutzte Geschirr. Es war auch noch Kaffee in der Isolierkanne, vermutlich war er sogar noch warm genug. Sie müsste nur ein frisches Gedeck aus der Küche holen. Aber sie wusste nicht, ob sie ihm einen Kaffee anbieten sollte, ging stattdessen ins Schlafzimmer und zog einen wadenlangen Rock an.
Es war so irreal. Sie hatte ihn angefasst. Nur ein Reflex. Aber normalerweise neigte sie nicht zu solchen Reflexen. Er hatte eine sonderbare Wirkung auf sie. Diese Kraft, das kurzärmelige T-Shirt stellte seine Muskeln deutlich zur Schau, und sein Gesicht strahlte so viel Hilflosigkeit aus.
Er lächelte sie unsicher an, als sie ihm ins Freie folgte und wieder in dem Sessel Platz nahm, in dem sie zuvor gesessen hatte. Er saß auf Nicoles Platz. Sie hatte nur zwei Sessel für die Terrasse angeschafft, weil sie nicht erwartet hatte, hier jemals mehr als Nicoles Gesellschaft zu genießen. Dann zog er seine Karten aus der Hosentasche, hieltihr BEN hin und bedeutete mit einer Geste, dass sie an der Reihe sei, sich vorzustellen.
«Ich bin die kleine Maus», sagte sie. «So hat Lukka mich immer genannt. Von dir hat er oft gesprochen und sehr viel über dich geschrieben. Hat er dir auch einmal von mir erzählt?»
Er schaute sie nur zweifelnd an. Dass sie eine kleine Maus war, glaubte er nicht, kleine Mäuse sahen ganz anders aus. Aber wenn sein Freund Lukka sie nur so genannt hatte, das leuchtete ihm ein, seine Schwester hatte ihn Bär genannt und Waldmensch.
«Sehr auskunftsfreudig bist du nicht», stellte sie fest. «Aber du kannst doch sprechen. Kannst du nicht mehr sagen als Kumpel, Freund, weh und weg?»
«Fein», sagte er.
Sie lachte leise. «Phantastisch, fünf Worte.»
«Fein weg», sagte er, zog die Karten seiner Mutter und seiner Schwester aus dem kleinen Haufen und legte sie nebeneinander zwischen die mit Sahneresten verschmierten Teller auf den Tisch.
Sie lachte noch einmal. «Sehr aufschlussreich.»
«Freund weg», sagte er und zeigte mit ausgestreckter Hand in den Wohnraum. Und sie bemerkte seine Narben, die unzähligen kleinen, die er sich im Laufe der Jahre irgendwo draußen an Dornen und Stacheldraht zugezogen hatte, und die großen. Die Stimme der Kanzleisekretärin zog ihr noch einmal durch den Kopf. «… keine Zweifel, dass der schwachsinnige junge Mann nur das Leben seiner Schwester verteidigt …»
Abwehrverletzungen, sie waren typisch, wenn jemand in die Klinge eines Messers griff. Auf wie vielen Fotos hatte sie das gesehen? Die Hände der Opfer von Messerangriffen sahen so aus, und meist gehörten dazu noch Fotos von einer durchschnittenen Kehle oder Stichwunden.
«Das ist etwas, was ich nie begreifen werde», sagte sie. «Marias Tochter und Britta Lässler kann ich noch nachvollziehen. Die beiden anderen hatten
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