Lukkas Erbe
nicht ins Gesicht geschlagen hatte. Renate glaubte auch, dass Bruno mit Ben nach dem Friseurbesuch irgendwo in Lohberg etwas getrunken hatte, um ihn für die Schramme am Kopf zu entschädigen. Die Bedienung sei sehr nett gewesen und habe ein bisschen mit Ben geflirtet.
Da sagte Renate noch: «Mach bloß keinen Quatsch.»
Und Bruno antwortete: «Träumen darf er doch.»
Dann ging Bruno hinauf in Bens Zimmer und konfiszierte das alte Springmesser. Und darüber wunderte Renate sich sehr. Es musste einen Grund geben, wenn Bruno das Messer monatelang duldete, ihr abverlangte, beide Augen zuzudrücken, und es Ben dann wegnahm. Bloß weil er beim Friseur gezappelt oder in irgendeiner Kneipe mit einer freundlichen Bedienung geflirtet hatte, bestimmt nicht.
Renate fiel in den nächsten Tagen auch auf, dass Bruno ihm nicht mehr auf die Schulter klopfte, ihn nicht mehr Kumpel nannte, ihn nur noch so nachdenklich betrachtete. Mehrfach versuchte sie von Ben zu erfahren, was vorgefallen war, hörte immer nur: «Kumpel weh, Fein fein macht.» Dann zog er die Karte mit seinem Namen und sagte: «Weg.» Renate konnte sich darauf keinen rechten Reim machen, für sie klang es so, als hätte Bruno ihm gedroht. Schließlich stellte sie Bruno zur Rede.
Er bestritt irgendeinen unangenehmen Zwischenfall.Doch Renate glaubte ihm nicht. «Ich weiß nicht, was passiert ist», sagte sie. «Und ich weiß nicht, was du vorhast. Aber ehe du es tust, erkundige dich besser bei Maria, ob sie bereit ist, deinen Haushalt zu führen, die Kälber zu versorgen und sich um die Kühe zu kümmern. Sobald ich merke, dass du irgendwas mit Ben im Schilde führst, bin ich weg.»
Widerstand von seiner Frau kannte Bruno Kleu nicht. Dass sie Partei für Ben ergriff, hatte er nicht erwartet, wo sie ihn doch zu Anfang nur mit Widerwillen aufgenommen hatte. Er nahm ihre Drohung auch nicht sofort ernst. Wo sollte sie denn hin, sie hatte doch nicht mal einen Beruf gelernt, der sie hätte ernähren können, und großartigen Unterhalt von ihm durfte sie nicht erwarten. Es war längst nicht mehr so rosig in der Landwirtschaft, man kam gerade mal so über die Runden.
Dann hörte Bruno zu seinem Erstaunen, dass es in Lohberg einen Mann gab, der mit Freuden für Renate sorgen wollte und sie mit offenen Armen aufnehmen würde. Und wenn sie ihn tatsächlich verließ, bei einem Hof von der Größe wäre das eine Katastrophe gewesen. Maria zu fragen, konnte Bruno sich ersparen. Die Antwort kannte er.
Maria hatte sich sehr verändert, wollte ihr Leben genießen, nichts mehr sehen und hören von Lukka, ihrer Tochter und allem, was damit zusammenhing. Sie hatte auch schon gedroht, Bruno zu verlassen, wenn er das Thema nicht endlich abhakte. Ein paar Mal hatte er gedacht, dass sie vielleicht Recht hatte, dass er sich nur unnötig damit quälte und doch nichts mehr ändern konnte. Jetzt dachte er anders, weil er wissen wollte, was Ben veranlasst hatte, für Lukka den Totengräber zu spielen. Zu einem kleinen Teil war es aber auch die Verantwortung, die er sich mit Ben ins Haus geholt hatte.
2. Oktober 1997
Das nächste Opfer hieß Dorit Prang, war achtundzwanzig Jahre alt und seit drei Jahren verheiratet. Seit zwei Monaten lag ihr Mann in einer Kölner Klinik, Krebs. Dorit Prang hatte bis zum Abend an seinem Bett gesessen und einen von den vielen Blumensträußen mitgenommen, die Kollegen ihres Mannes ihm in die Klinik gebracht hatten. In ihr Haus am Lerchenweg zog es sie nicht. Sie wollte die Blumen zum Grab ihrer Großeltern bringen.
Für den großen, dunkel gekleideten Mann in ihrer Nähe hatte sie keinen Blick. Erst als er fast neben ihr stand, hob sie den Kopf. Sie hatte geweint, war ganz in Gedanken und erschrak nicht einmal, als er ihr das Messer zeigte. Sie schrie auch nicht, als er ihr die Hände um den Hals legte.
Er drückte zu, nicht fest und nur so lange, bis sie zusammenbrach. Dann ließ er sie sofort los und trug sie in den Schatten der Kirche. Dort wartete er mit ihr, bis er sicher sein konnte, auf den Straßen keinem Menschen mehr zu begegnen.
Damit sie unterwegs nicht schrie und jemanden aufmerksam machte, stopfte er ihr Papiertücher in den Mund. Und damit sie nicht nach ihm schlug, band er ihr die Hände mit seinem Gürtel auf den Rücken.
Es war ein langer Weg. Er musste sie stützen. Das letzte Stück trug er sie sogar. Dann legte er sie nieder, legte sich dazu. Bis zum Morgen blieb er bei ihr. Ehe er sie verließ, steckte er ihr wieder das Papier
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