Lullaby (DE)
längste und spitzeste zwischen den Fingern herausragt.
»Ist Ihnen klar, dass alles, was Sie in Ihrem Leben tun, in hundert Jahren nichts mehr bedeuten wird?«, sagt sie. »Glauben Sie, dass sich in hundert Jahren noch irgendwer an die Stuarts erinnern wird?«
Ihr Blick wandert über die polierten Flächen der Tische, Kommoden und Türen, in denen ihr Spiegelbild vorübertreibt.
»Menschen sterben«, sagt sie. »Menschen reißen Häuser ab. Aber Möbel, elegante, schöne Möbel, die haben Bestand, die überleben alles.«
Sie sagt: »Schränke sind die Kakerlaken unserer Kultur.«
Und ohne aus dem Tritt zu kommen, zieht sie die stählerne Spitze des Schlüssels über die polierte Walnussfläche eines Schränkchens. Das Geräusch ist so leise wie immer, wenn Scharfes durch Weiches schneidet. Die Narbe ist tief und lässt das billige Kiefernholz unter dem Furnier erkennen.
Sie bleibt vor einem Kleiderschrank mit facettierten Glastüren stehen.
»Denken Sie an die vielen Generationen von Frauen, die in diesen Spiegel gesehen haben«, sagt sie. »Sie haben ihn mit nach Hause genommen. Sie sind in diesem Spiegel alt geworden. Sie sind gestorben, alle diese schönen jungen Frauen, aber der Schrank ist immer noch da und heute mehr wert als je zuvor. Ein Parasit, der seinen Wirt überlebt. Ein großes fettes Raubtier, das auf seine nächste Mahlzeit wartet.«
In diesem Labyrinth von Antiquitäten, sagt sie, leben die Geister aller Menschen, die diese Möbel einmal besessen haben. Die reich waren und erfolgreich genug, es unter Beweis zu stellen. Ihr Talent, ihre Intelligenz und ihre Schönheit wurden von diesem dekorativen Müll überlebt. Von all den Erfolgen und Leistungen, die diese Möbel einmal repräsentieren sollten, ist nichts mehr übrig.
Sie sagt: »Was spielt es im großen Plan des Lebens für eine Rolle, wie die Stuarts zu Tode gekommen sind?«
Ich frage, wie sie auf die Sache mit dem Merzlied gekommen ist. Vielleicht, nachdem ihr Sohn Patrick gestorben war?
Und sie geht einfach weiter, streicht mit den Fingern über die geschnitzten Kanten, die polierten Flächen, beschädigt die Knäufe und beschmiert die Spiegel.
Man musste nicht lange herumwühlen, um herauszufinden, wie ihr Mann gestorben ist. Ein Jahr nach Patrick wurde er tot in seinem Bett aufgefunden, ohne äußere Spuren, ohne Abschiedsbrief, ohne erkennbare Ursache.
Und Helen Boyle sagt: »Wie wurde Ihr Redakteur aufgefunden?«
Sie entnimmt ihrer gelb-weißen Handtasche eine kleine, silbern funkelnde Zange und einen Schraubenzieher, sauber und präzis gearbeitet wie chirurgische Instrumente. Sie zieht die Tür eines mächtigen geschnitzten und polierten Wandschranks auf und sagt: »Halten Sie das bitte für mich fest.«
Ich halte die Tür, während sie sich kurz im Inneren des Schranks zu schaffen macht, und schon fallen mir Riegel und Türgriff vor die Füße.
Eine Minute später hat sie alle Metallteile, die Griffe und die vergoldeten Beschläge, nur die Türangeln nicht, abgeschraubt und in ihrer Handtasche verschwinden lassen. So entblößt, macht der Wandschrank einen verkrüppelten, blinden, kastrierten, verstümmelten Eindruck.
Und ich frage, warum sie das macht.
»Weil ich dieses Stück liebe«, sagt sie. »Aber ich habe nicht vor, auch einmal zu seinen Opfern zu zählen.«
Sie schließt die Türen und verstaut ihr Werkzeug wieder in der Handtasche.
»Ich werde den Schrank kaufen, wenn er wieder nur so viel kostet, wie er gekostet hat, als er neu war«, sagt sie. »Der Schrank gefällt mir sehr, aber ich nehme ihn nur zu meinen Bedingungen.«
Wir gehen ein paar Schritte weiter, und der Korridor verwandelt sich in einen Wald aus Garderoben und Hutablagen, Schirmständern und Mantelständern. Dahinter erhebt sich die nächste Wand aus Vitrinen und Schränken.
»Elisabethanisch«, sagt sie und berührt ein Stück. »Tudor . . . Eastlake . . . Stickley . . .«
Wenn man zwei alte Stücke nimmt, zum Beispiel einen Spiegel und eine Kommode, und zu einem Stück zusammenfügt, sprechen die Fachleute von einem »verheirateten« Stück, erklärt sie mir. Als Antiquität hat das dann keinen Wert mehr.
Wenn man zwei Stücke auseinander nimmt, zum Beispiel eine Anrichte und eine Truhe, und einzeln verkauft, sprechen die Fachleute von »geschiedenen« Stücken.
»Und auch die«, sagt sie, »sind wertlos.«
Ich erzähle von meinen Versuchen, sämtliche Exemplare des Gedichtbuches aufzutreiben. Ich sage, wie wichtig es ist, dass kein
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