Lullaby (DE)
Mensch jemals von dem Merzlied erfährt. Nach dem, was Duncan zugestoßen ist, schwöre ich, alle meine Notizen zu verbrennen und mir jede Erinnerung an das Lied aus dem Kopf zu schlagen.
»Und wenn Sie es nicht vergessen können?«, sagt sie. »Wenn es in Ihrem Kopf bleibt und dort immer weiter herumläuft wie irgendein albernes Reklamejingle? Wenn es für immer dort bleibt wie eine geladene Waffe, die nur darauf wartet, dass jemand Ihnen lästig wird?«
Ich würde es nicht benutzen.
»Nur mal angenommen, natürlich«, sagt sie, »was wäre, wenn ich mir genau dasselbe auch schon geschworen hätte? Ich. Eine Frau, von der Sie behaupten, dass sie unbeabsichtigt ihr Kind und ihren Mann umgebracht hat, eine Frau, die von der Macht dieses Fluchs gequält worden ist. Wenn jemand wie ich schließlich angefangen hat, dieses Lied zu benutzen – wie können Sie da wissen, dass Sie das niemals tun werden?«
Ich tu’s eben einfach nicht.
»Natürlich nicht«, sagt sie und lacht, wenn auch tonlos. Sie biegt nach rechts ab, an einer Biedermeier-Kredenz vorbei, verschwindet hinter einem Art-nouveau-Schrank und ist für kurze Zeit nicht mehr zu sehen.
Orientierungslos eile ich ihr nach und sage, falls wir hier wieder rausfinden wollen, sollten wir lieber zusammenbleiben.
Plötzlich taucht der William-und-Mary-Sekretär vor uns auf. Schwarz lackierte Kiefer mit persischen Szenen in Silber, gedrechselte Füße, Giebelfeld mit geschnitzten Kringeln und Muscheln. Und Helen Hoover Boyle, die mich immer tiefer in das Dickicht aus Schränken und Schränkchen und Vitrinen und Kommoden und Schaukelstühlen und Garderobeständern und Bücherregalen führt, sagt, dass sie mir eine kleine Geschichte erzählen muss.
10
In der Nachrichtenredaktion verhalten sich alle sehr still. Sie flüstern am Kaffeeautomaten. Sie lauschen mit offenem Mund. Niemand weint.
Henderson erwischt mich, als ich gerade mein Jackett aufhänge, und sagt: »Haben Sie Regent-Pacific Airlines wegen dieser Filzläuse angerufen?«
Und ich sage, niemand sage ein Wort, bevor die Klage eingereicht sei.
Und Henderson sagt: »Nur damit Sie Bescheid wissen: Sie sind jetzt mir unterstellt.« Er sagt: »Duncan ist nicht nur verantwortungslos. Er ist tot.«
Gestorben im Bett, ohne äußere Spuren. Kein Abschiedsbrief, keine sichtbare Todesursache. Sein Vermieter hat ihn gefunden und die Rettungssanitäter gerufen.
Und ich frage: Irgendein Hinweis auf Vergewaltigung?
Hendersons Kopf zuckt kaum merklich zurück. Er sagt: »Wie bitte?«
Hat jemand ihn gefickt?
»Gott, nein«, sagt Henderson. »Wie kommen Sie denn darauf?«
Nur so, sage ich.
Wenigstens ist Duncan nicht von einem Nekrophilen als Spielzeug benutzt worden.
Ich sage, wenn jemand mich brauche, ich sei im Archiv. Ich müsse ein paar Fakten überprüfen. Müsse nur ein paar Jahrgänge Zeitungen durchgehen. Ein paar Spulen Mikrofilm überfliegen.
Und Henderson ruft mir nach: »Übertreiben Sie’s nicht. Nur weil Duncan tot ist, brauchen Sie nicht zu denken, sie könnten die Sache mit den toten Babys jetzt vergessen.«
Knüppel und Steine brechen dir die Beine, aber hüte dich vor diesen verdammten Wörtern.
Dem Mikrofilm zufolge hat 1983 eine dreiundzwanzigjährige Schwesternhelferin in Wien einer alten Frau, die sie um ihren Tod anflehte, eine Überdosis Rohypnol gegeben.
Die siebenundsiebzig Jahre alte Frau starb, und Waltraud Wagner, die Schwesternhelferin, hielt es fortan für einen reizenden Gedanken, Macht über Leben und Tod zu besitzen.
Das steht hier alles in den Mikrofilmen. Nur die Fakten.
Anfangs tat sie es nur, um sterbenden Patienten zu helfen. Sie arbeitete in einem riesigen Krankenhaus für alte und chronisch Kranke. Die Menschen dort warteten nur noch auf ihren Tod und sehnten ihn herbei. Die junge Frau benutzte nicht nur Rohypnol, sondern erfand auch etwas, was sie ihre Mundpflege nannte. Um das Leiden zu beenden, kneift man dem Patienten einfach die Nase zu. Man drückt ihm die Zunge mit einem Spachtel nach unten und flößt ihm Wasser in den Mund. Der Tod ist eine langsame Folter, aber bei gestorbenen alten Leuten findet man immer Wasser in der Lunge.
Die junge Frau nannte sich einen Engel.
Es sah sehr natürlich aus.
Es waren edle, heldenhafte Taten, die Wagner da vollbrachte.
Sie bedeutete das endgültige Aus für Elend und Leid. Sie war freundlich, mitfühlend und sensibel, und sie nahm nur die, die sie um ihren Tod anflehten. Sie war der Todesengel.
1987 gab es drei
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