Lullaby (DE)
Schwimmbad während eines Polioalarms. Danach werden nur noch ein paar Regierungssender zu hören sein. Nur handverlesene Nachrichten und Musik. Danach werden alle Songs, Bücher und Filme an Labortieren oder freiwilligen Sträflingen getestet, bevor sie veröffentlicht werden.
Statt Mundschutzmasken werden die Leute Kopfhörer tragen, die ihnen wohltuenden ständigen Schutz durch sichere Musik oder Vogelgesang bieten. Die Leute werden für »reine« Nachrichten bezahlen, für »sichere« Information und Unterhaltung. Man denke daran, wie Milch und Fleisch und Blut getestet werden: So werden dann auch Bücher und Musik und Filme gefiltert und homogenisiert. Zum Verzehr zugelassen.
Die Leute werden einen sehr großen Teil ihrer Kultur gern für die Gewissheit aufgeben, dass das bisschen, was noch übrig bleibt, sicher und sauber ist.
Weißes Rauschen.
Man stelle sich eine stille Welt vor, aus der jedes Geräusch verbannt wäre, das laut oder lang genug ist, ein tödliches Gedicht darin zu verbergen. Keine Motorräder mehr, keine Rasenmäher, Düsenflugzeuge, Elektromixer, Föhne. Eine Welt, in der die Menschen sich vor dem Hören fürchten, weil sie Angst haben, hinter dem Verkehrslärm noch etwas anderes zu hören. Toxische Worte, begraben in der lauten Musik von nebenan. Man stelle sich vor, wie der Widerstand gegen jegliches Sprechen immer mehr zunimmt. Niemand spricht, weil niemand zuzuhören wagt.
Die Tauben werden die Erben der Erde sein.
Und die Analphabeten. Die Einsamen. Man stelle sich eine Welt aus lauter Einsiedlern vor.
Noch eine Tasse Kaffee, und ich muss pissen wie ein Schwein. Henderson von der Innenpolitik erwischt mich, als ich mir auf der Toilette die Hände wasche, und sagt etwas.
Könnte alles Mögliche sein.
Ich trockne mir die Hände unter dem Gebläse und schreie, dass ich ihn nicht hören könne.
»Duncan«, schreit Henderson. Durch das Rauschen des Wassers und des Händetrockners schreit er: »Wir haben zwei Leichen in einem Hotelzimmer, und wir wissen nicht, ob das was für uns ist oder nicht. Wir brauchen Duncan, der muss da hin.«
Jedenfalls nehme ich an, dass er das sagt. Es ist zu laut.
Im Spiegel kontrolliere ich meine Krawatte und kämme mich mit den Fingern. Henderson steht gespiegelt neben mir, und ich könnte in einem einzigen Atemzug das Merzlied aufsagen: Dann wäre er bis zum Abend aus meinem Leben verschwunden. Er und Duncan. Tot. So einfach wäre das.
Stattdessen frage ich, ob das geht, blaue Krawatte zum braunen Jackett.
8
Als der erste Sanitäter am Ort des Geschehens eintraf, griff er als erste Maßnahme zum Telefon und rief seinen Börsenmakler an. Dieser Sanitäter, mein Freund John Nash, taxierte die Lage in Suite 17F des Hotels Pressman und gab dann Order, alle seine Aktien der Stuart Western Technologies zu verkaufen.
»Klar, die können mich rausschmeißen«, sagt Nash, »aber in den drei Minuten, die der Anruf gedauert hat, sind die zwei im Bett auch nicht toter geworden.«
Als Nächstes ruft er mich an und fragt, ob ich fünfzig Dollar für ihn habe, er könne mir noch ein paar zusätzliche Einzelheiten erzählen. Er sagt, falls ich Aktien von Stuart Western habe, solle ich sie sofort abstoßen und mich dann zu der Bar in der Third aufmachen, in der Nähe des Krankenhauses.
»Gott«, sagt Nash am Telefon, »die Frau war wirklich schön. Wenn Turner nicht da gewesen wäre, mein Partner Turner, na, ich weiß nicht.« Und er legt auf.
Dem Ticker zufolge befinden sich die Aktien von Stuart Western bereits im Sturzflug. Die Nachricht über Baker Lewis Stuart, den Gründer der Firma, und seine neue Frau Penny Price Stuart muss sich schon rumgesprochen haben.
Gestern Abend um sieben waren die Stuarts im Chez Chef zum Essen erschienen. So was ist dem Hotelportier mühelos zu entlocken. Nach Aussage des Kellners hat einer der beiden Lachsrisotto gegessen, der andere Champignons. An der Rechnung, sagt er, kann man nicht erkennen, wer was gegessen hat. Sie haben eine Flasche Pinot noir getrunken. Jemand hatte einen Käsekuchen zum Nachtisch. Beide haben Kaffee bestellt.
Um neun fuhren sie zu einer Party in der Chambers Gallery, wo die Polizei von Zeugen erfuhr, dass die beiden mit mehreren Leuten gesprochen hatten, unter anderem mit dem Besitzer der Galerie und dem Architekten ihres neuen Hauses. Beide tranken noch je ein Glas Wein.
Um halb elf kehrten sie ins Hotel Pressman zurück, wo sie seit ihrer Hochzeit fast einen Monat lang die Suite 17F
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