Lullaby (DE)
sprechen.«
Sie bauscht die rosa Haare über dem Ohr zurecht und sagt: »Folgen Sie mir.«
Mit ihrer flachen offenen Hand kratzt sie einen Pfeil in eine Tischplatte. Es ist ein Sheraton-Kartentisch mit filigranem Messinggitter, steht auf dem angeklebten Zettel.
Jetzt ist es ein Krüppel.
Helen Hoover Boyle geht voran. Sie sagt: »Am liebsten wäre es mir, Sie würden ganz aus der Sache aussteigen.« Sie sagt: »Im Grunde geht Sie das gar nichts an.«
Weil ich bloß Reporter bin, will sie damit sagen. Weil ich ein Reporter bin, der hinter einer Geschichte her ist, die er der Welt niemals wird erzählen können. Weil mich das bestenfalls zu einem Voyeur macht. Schlimmstenfalls zu einem Aasgeier.
Sie bleibt vor einem riesigen Kleiderschrank mit Spiegeltüren stehen, und hinter ihr aufgebaut, sehe ich mich knapp über ihrer Schulter gespiegelt. Sie macht die Handtasche auf und nimmt ein kleines goldenes Röhrchen heraus. »Genau das meine ich«, sagt sie.
Die Beschreibung lautet: französisch-neoägyptisch mit Pappmaché-Palmetten und Girlanden aus polychromem Flechtwerk.
Im Spiegel dreht sie an dem goldenen Röhrchen, und ein rosa Lippenstift wächst daraus hervor.
Und hinter ihr sage ich: Aber was, wenn ich mehr bin als nur mein Job?
Vielleicht bin ich nicht bloß ein zweidimensionales Raubtier, das sich eine interessante Situation zu Nutze macht.
Aus irgendeinem Grund muss ich an Nash denken.
Ich sage, vielleicht sei mir das Buch nur aufgefallen, weil ich es früher selbst mal hatte. Vielleicht hatte ich mal eine Frau und eine Tochter. Was, wenn ich meiner Familie eines Abends zum Einschlafen das verdammte Gedicht vorgelesen habe? Das ist natürlich nur hypothetisch gemeint: Was, wenn ich sie getötet habe?, sage ich. Würde mich das in Ihren Augen glaubwürdiger machen?
Sie zerrt die Lippen rauf und runter und fährt mit dem Lippenstift über den rosa Lippenstift, der schon da ist.
Ich hinke einen Schritt näher und frage, ob mich das für ihre Ansprüche hinreichend traumatisiert.
Die Schultern breit und gespannt, presst sie die Lippen bis zu den Außenrändern zusammen. Und langsam, bis zum letzten Augenblick verklebt, lösen sie sich wieder voneinander.
Gott behüte, dass irgendwer jemals größeres Leid zu tragen hat als Helen Hoover Boyle.
Und ich sage, vielleicht habe ich ganz genauso viel verloren wie sie.
Und sie schraubt den Lippenstift wieder ein. Wirft ihn in die Handtasche und dreht sich zu mir um.
Glitzernd und reglos steht sie vor mir und sagt: »Ist das hypothetisch gemeint?«
Und ich verziehe mein Gesicht zu einem Lächeln und sage: Natürlich.
Sie legt die Hand an den Wandschrank, kratzt einen nach rechts zeigenden Pfeil hinein und geht los, wenn auch langsam, und streicht dabei mit der Hand über die sorgfältig gewachsten und polierten Schränke und Kommoden, zerstört alles, was sie berührt.
Vor mir hergehend, sagt sie: »Haben Sie sich schon mal gefragt, wo dieses Gedicht herkommt?«
Afrika, sage ich, während ich mich dicht hinter ihr halte.
»Aber das Buch, aus dem es stammt«, sagt sie. An Gewehrschränken, Anrichten mit Aufsätzen und Renaissancestühlen vorbeigehend, sagt sie: »Hexen nennen ihre Sammlung von Zaubersprüchen das Buch der Schatten.«
Gedichte und Lieder aus aller Welt ist vor elf Jahren erschienen, sage ich. Ich habe ein bisschen herumtelefoniert. Das Buch hatte eine Auflage von fünfhundert Exemplaren. Der Verlag, Kinder-Haus Press, hat inzwischen Pleite gemacht, und die Druckplatten und Nachdruckrechte gehören jemandem, der sie aus dem Nachlass des Autors erworben hat. Der Autor ist ohne erkennbare Ursache vor drei Jahren gestorben. Doch wer die Rechte besitzt, konnte ich nicht in Erfahrung bringen.
Und Helen Hoover Boyle unterbricht das Zerstörungswerk ihres Diamanten mitten auf einem breiten facettierten Spiegel und sagt: »Ich besitze die Rechte. Und ich weiß, worauf Sie damit hinauswollen. Ich habe die Rechte vor drei Jahren erworben. Mithilfe von Buchhändlern habe ich ungefähr dreihundert dieser ursprünglich fünfhundert Bücher aufgetrieben, und ich habe jedes einzelne verbrannt.«
Sie sagt: »Aber das ist nicht das Entscheidende.«
Ich stimme ihr zu. Entscheidend sei, die noch fehlenden Bücher zu finden, um die ganze Katastrophe einzudämmen. Schadensbegrenzung. Entscheidend sei, einen Weg zu finden, wie wir selbst das Gedicht vergessen können. Vielleicht könne uns Mona Sabbat und ihre Gruppe ja dabei helfen.
»Bitte«, sagt
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