Lullaby (DE)
Helen, »Sie haben doch nicht immer noch vor, zu dieser Gesellschaft zu gehen?« Sie sagt: »Was haben Sie über den Autor des Buchs herausgefunden?«
Er heißt Basil Frankie, und Autor ist eigentlich zu viel gesagt. Er sammelte vergriffene Texte, die jedermann nachdrucken durfte, und stellte sie zu Anthologien zusammen. Mittelalterliche Sonette, obszöne Limericks, Kinderlieder. Manches davon nahm er einfach aus alten Büchern. Anderes holte er sich aus dem Internet. Er war nicht sehr wählerisch. Er schmiss alles in seine Bücher, was er umsonst kriegen konnte.
»Aber die Quelle dieses speziellen Gedichts?«, sagt sie.
Keine Ahnung. Wahrscheinlich irgendein altes Buch, das irgendwo im Keller eines Hauses in einer Kiste liegt.
»Jedenfalls nicht in Frankies Haus«, sagt Helen Hoover Boyle. »Ich habe das ganze Anwesen gekauft. In der Küche stand noch der Müll unter der Spüle, und die Unterwäsche lag noch in den Kommoden. Alles war noch da. Das Buch nicht.«
Und ich muss fragen, ob sie auch ihn getötet hat.
»Wenn ich«, sagt sie, »hypothetisch gesprochen, wenn ich gerade meinen Sohn und gleich danach meinen Mann getötet hätte, müsste ich dann nicht ein kleines bisschen wütend sein, dass irgendein fauler, verantwortungsloser, gieriger, dämlicher Plagiator die Bombe gelegt hat, der alle zum Opfer gefallen sind, die ich geliebt habe?«
Genau wie sie hypothetisch die Stuarts getötet hat.
Sie sagt: »Ich will darauf hinaus, dass das ursprüngliche Buch der Schatten noch irgendwo existieren muss.«
Ich stimme ihr zu. Und wir müssen es finden und vernichten.
Und Helen Hoover Boyle lächelt ihr rosa Lächeln. Sie sagt: »Sie scherzen.« Sie sagt: »Es reicht nicht, Macht über Leben und Tod zu haben. Sie fragen sich doch bestimmt, was für andere Gedichte es in diesem Buch noch geben mag.«
Ich stehe auf meinem unversehrten Fuß, starre sie an, und es überkommt mich unvermittelt wie ein Schluckauf. Nein, sage ich.
Sie sagt: »Vielleicht könnten Sie ewig leben.«
Und ich sage Nein.
Und sie sagt: »Vielleicht können Sie jede beliebige Frau in sich verliebt machen.«
Nein.
Und sie sagt: »Vielleicht können Sie aus Stroh Gold machen.«
Und ich sage Nein und mache auf dem Absatz kehrt.
»Vielleicht könnten Sie den Weltfrieden herbeiführen«, sagt sie.
Und ich sage Nein und gehe zwischen den Wänden aus Schränken und Regalen davon. Zwischen Barrikaden aus Vitrinen und Kopfbrettern von Betten verschwinde ich in der nächsten Schlucht aus Möbeln.
Sie ruft mir nach: »Vielleicht könnten Sie Sand zu Brot machen.«
Und ich humple weiter.
Und sie ruft: »Wo wollen Sie hin? Nach draußen geht es hier entlang.«
An einer irischen Kiefer-Vitrine mit geborstenem Türbogenfeld biege ich nach rechts. Bei einem japanisch schwarzlackierten Chippendale-Sekretär biege ich nach links.
Ihre Stimme hinter all dem sagt: »Vielleicht könnten Sie Kranke heilen. Vielleicht könnten Sie Lahme gehend machen.«
An einem belgischen Sideboard mit Eierstab biege ich nach rechts, dann nach links bei einem edwardianischen Hochschrank mit böhmischer Glasmalerei.
Und die mir folgende Stimme sagt: »Vielleicht könnten Sie die Umwelt sauber machen und die Welt in ein Paradies verwandeln.«
Ein Pfeil, der in einen zierlichen Beistelltisch gekratzt ist, zeigt in eine Richtung. Ich nehme die andere.
Und die Stimme sagt, vielleicht könnten Sie unbegrenzt saubere Energie erzeugen.
Vielleicht könnten Sie Zeitreisen unternehmen, um Tragödien zu verhindern. Um zu lernen. Um Leute zu treffen.
Vielleicht könnten Sie den Menschen zu einem glücklichen, erfüllten Leben verhelfen.
Vielleicht reicht es Ihnen nicht, für den Rest Ihres Lebens in einer viel zu lauten Wohnung herumzuhumpeln.
Auf einem Schwarzstickerei-Wandschirm zeigt ein Pfeil in eine Richtung. Ich nehme die andere.
Wieder meldet sich mein Piepser. Es ist Nash.
Und die Stimme sagt, wenn Sie Leute töten können, können Sie sie vielleicht auch wieder lebendig machen.
Vielleicht sei das meine zweite Chance.
Die Stimme sagt, vielleicht kommen Sie nicht in die Hölle für das, was Sie tun. Vielleicht kommen Sie in die Hölle für das, was Sie nicht tun. Für das, was Sie nicht zu Ende bringen.
Wieder meldet sich mein Piepser, und er sagt, die Nachricht sei wichtig.
Und ich humple weiter.
16
Nash steht nicht am Tresen. Er sitzt allein an einem kleinen Tisch im Hintergrund, fast im Dunkeln: Nur eine kleine Kerze steht auf dem Tisch. Ich sage,
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