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Lullaby (DE)

Lullaby (DE)

Titel: Lullaby (DE) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Chuck Palahniuk
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dem Bettchen ein Hocker, darauf ein Stapel Bücher. Gedichte und Lieder liegt ganz oben.
    Als ich das Buch auf die Kommode lege, klappt es auf Seite 27 auf.
    Ich fahre mit der Spitze einer Stecknadel an der Innenkante der Seite entlang, dicht an der Bindung entlang, und die Seite löst sich. Ich falte das Blatt, schiebe es in die Tasche und lege das Buch auf den Stapel zurück.
    Im Wohnzimmer liegen die Schminksachen in einem Haufen auf dem Fußboden.
    Helen hat den doppelten Boden aus ihrem Kosmetikkoffer entfernt. Darunter liegen Halsketten und Armbänder, schwere Broschen und Ohrringe, alles massiv und splittrig funkelnd in Rot und Grün, Gelb und Blau. Schmuck. Helen hält mit beiden Händen eine lange Halskette aus gelben und roten Steinen, die größer als ihre glänzenden rosa Fingernägel sind.
    »Bei Diamanten in Brillantschliff«, sagt sie, »achten Sie darauf, dass durch die Facetten unterhalb der Einfassung des Steins kein Licht austritt.« Sie legt der Frau die Kette in die Hände und sagt: »Bei Rubinen können so genannte Einschlüsse von Fremdpartikeln – Aluminiumoxid – dem Stein eine leicht ins Rosa spielende Farbe verleihen, falls der Juwelier den Stein nicht sehr großer Hitze ausgesetzt hat.«
    Der Trick, das große Ganze zu vergessen, besteht darin, alles aus der Nähe zu betrachten.
    Die zwei Frauen sind sich so nah, dass ihre Knie ineinander greifen. Ihre Köpfe berühren sich beinahe. Die Kükenfrau weint nicht mehr.
    Die Kükenfrau hat eine Juwelierslupe in ein Auge geklemmt.
    Die verwelkten Blumen sind beiseite geschoben, der Couchtisch ist mit funkelndem Rosa und glattem Gold, mattweißen Perlen und blauen Lapislazuli übersät. Dazwischen leuchtet es orangefarben und gelb. Oder silbern und weiß.
    Und Helen nimmt ein leuchtend grünes Ei in die Hand, das so grell ist, dass die beiden Frauen im reflektierten Licht ganz grün aussehen, und sagt: »Sehen Sie die einförmigen schleierartigen Einschlüsse in diesem synthetischen Smaragd?«
    Die Frau mit der Lupe im Auge nickt.
    Und Helen sagt: »Hören Sie gut zu. Ich möchte nicht, dass Sie mal so reingelegt werden, wie es mir passiert ist.« Sie greift in den Kosmetikkoffer, nimmt etwas Hellgelbes heraus und sagt: »Diese gelbe Saphirbrosche hat einmal dem Filmstar Natasha Wren gehört.« Mit beiden Händen hebt sie ein funkelndes rosa Herz heraus, an dem eine lange Kette aus kleineren Diamanten hängt, und sagt: »Dieser Siebenhundert-Karat-Beryll-Anhänger war früher im Besitz der Königin Maria von Rumänien.«
    In diesem Haufen Schmuck, sagte Helen Hoover Boyle, leben die Geister aller, die ihn einmal getragen haben. Die reich waren und erfolgreich genug, es unter Beweis zu stellen. Ihr Talent, ihre Intelligenz und ihre Schönheit wurden überlebt von diesem dekorativen Müll. Von all den Erfolgen und Leistungen, die dieser Schmuck einmal repräsentieren sollte, ist nichts mehr übrig.
    Dieselbe Frisur, dasselbe Make-up, so nah beisammen: Die beiden könnten Schwestern sein. Oder Mutter und Tochter. Vorher und nachher. Vergangenheit und Zukunft.
    Es kommt noch mehr, aber ich verziehe mich jetzt ins Auto.
    Mona fragt vom Rücksitz her: »Habt ihr’s gefunden?«
    Und ich sage Ja. Aber der Frau da drin helfe das auch nicht mehr.
    Das Einzige, was wir ihr gegeben haben, ist eine aufgebauschte Frisur und wahrscheinlich eine Ringelflechte.
    Oyster sagt: »Zeig uns das Lied. Wir wollen wissen, worum es bei dieser ganzen Fahrerei eigentlich geht.«
    Und ich sage: Absolut ausgeschlossen. Ich stopfe mir die gefaltete Buchseite in den Mund und kaue heftig. Mein Fuß tut mir weh, und ich ziehe den Schuh aus. Ich kaue und kaue. Mona schläft ein. Ich kaue und kaue. Oyster schaut aus dem Fenster nach ein paar Pflanzen in einem Graben.
    Ich schlucke die Seite runter und schlafe ein.
    Später, unterwegs in die nächste Stadt, die nächste Bücherei, vielleicht zum nächsten Schminkwunder, wache ich auf, und Helen hat den Wagen schon fast dreihundert Meilen weiter gesteuert.
    Es ist fast dunkel, und ohne den Blick von der Straße zu wenden, sagt sie: »Ich notiere mir alle Reisekosten.«
    Mona richtet sich auf und kratzt sich ausgiebig am Kopf. Sie drückt den Finger neben ihrem kleinen Finger, sie drückt sich die Spitze dieses Fingers tief in den Augenwinkel und zieht ihn schnell wieder weg: Es klebt ein Klümpchen Schlaf daran, das sie an ihrer Jeans abwischt. Sie sagt: »Wo wollen wir was essen?«
    Ich sage Mona, sie soll sich

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