Lullaby (DE)
anschnallen.
Helen macht die Scheinwerfer an. Sie spreizt eine Hand auf dem Steuerrad und betrachtet den Handrücken, die Ringe, und sagt: »Wenn wir das Buch der Schatten gefunden haben, wenn wir die allmächtigen Führer der ganzen Welt sind, wenn wir unsterblich sind und den ganzen Planeten besitzen, und wenn alle Menschen uns lieben«, sagt sie, »schuldest du mir immer noch Kosmetika im Wert von zweihundert Dollar.«
Sie sieht merkwürdig aus. Mit ihrer Frisur stimmt was nicht. Es sind ihre Ohrringe, die schweren rosa und roten Klunker, rosa Saphire und Rubine. Sie sind weg.
21
Das war nicht bloß eine Nacht. So kommt es einem nur vor. Das waren viele Nächte, durch Texas und Arizona, weiter nach Nevada, durch Kalifornien und rauf nach Oregon, Washington, Idaho, Montana. Nachts im Auto ist es immer dasselbe. Egal wo man ist.
Im Dunkeln ist jeder Ort derselbe Ort.
»Mein Sohn Patrick ist nicht tot«, sagt Helen Hoover Boyle.
Man hat ihm einen amtlichen Totenschein ausgestellt, aber ich sage nichts.
Helen sitzt am Steuer, Mona und Oyster schlafen auf der Rückbank. Schlafen oder hören zu. Ich sitze auf der Beifahrerseite. An meine Tür gelehnt, bin ich von Helen so weit entfernt wie möglich. Den Kopf an den rechten Arm gelegt, kann ich zuhören, ohne sie anzusehen.
Und Helen redet mit mir, ohne sich umzusehen. Wir beide starren stur geradeaus auf die Scheinwerferkegel vor der Kühlerhaube.
»Patrick liegt in der Klinik Neues Leben«, sagt sie. »Und ich glaube fest daran, dass er eines Tages wieder vollständig wiederhergestellt sein wird.«
Ihr in rotes Leder gebundener Terminkalender liegt auf dem Mittelsitz zwischen uns.
Als wir durch North Dakota und Minnesota fahren, frage ich, wie sie auf das Merzlied gestoßen ist.
Und mit einem rosa Fingernagel drückt sie irgendwo im Dunkeln auf einen Knopf und stellt damit den Temporegler an. Mit irgendetwas anderem im Dunkeln stellt sie das Fernlicht an.
»Ich war mal Kundenbeauftragte bei Skin Tone Cosmetics«, sagt sie. »Der Wohnwagen, in dem wir leben mussten, war nicht sehr angenehm.« Sie sagt: »Mein Mann und ich.«
Sein Name auf dem Totenschein ist John Boyle.
»Du weißt, wie das beim Ersten ist«, sagt sie. »Man kriegt von den Leuten jede Menge Spielzeug und Bücher geschenkt. Ich weiß nicht mal, von wem das Buch tatsächlich gekommen ist. Es war einfach ein Buch in einem Bücherstapel.«
Den Akten zufolge muss das vor zwanzig Jahren gewesen sein.
»Ich brauche dir nicht zu erzählen, was passiert ist«, sagt sie. »Aber John hat immer gedacht, es sei meine Schuld.«
Den Polizeiakten zufolge gab es in den Wochen nach dem Tod von Patrick Raymond Boyle, sechs Monate alt, sechs Einsätze wegen Ruhestörung am Wohnsitz der Boyles, Platz 175 im Wohnmobilpark Buena Noche.
Als wir durch Wisconsin und Nebraska fahren, sagt Helen: »Ich habe für Skin Tone Klinken geputzt.« Sie sagt: »Ich bin nicht gleich wieder arbeiten gegangen. Gott, das muss anderthalb Jahre nach Patricks ... nach dem Morgen gewesen sein, an dem wir Patrick gefunden haben.«
Als sie einmal in der Wohnwagensiedlung herumging, in der sie lebten, erzählt Helen, lernte sie eine junge Frau kennen, die genauso war wie die Frau mit der Kükenschürze. Dieselben welken Beerdigungsblumen, die man aus der Leichenhalle mit nach Hause gebracht hatte. Dasselbe leere Kinderbettchen.
»Ich hätte mit dem Verkauf von Rouge und Abdeckstiften eine Menge Geld verdienen können«, sagt Helen lächelnd, »besonders am Monatsende, wenn das Geld knapp wurde.«
Diese andere Frau vor zwanzig Jahren war genauso alt wie Helen, und als sie sich unterhielten, zeigte sie Helen das Kinderzimmer, die Babybilder. Die Frau hieß Cynthia Moore. Sie hatte ein blaues Auge.
»Und mir fiel auf, dass sie auch dieses Buch hatten«, sagt Helen. »Gedichte und Lieder aus aller Welt .«
Diese anderen Leute hatten das Buch auf der Seite aufgeschlagen liegen lassen, die sie am Abend vor dem Tod ihres Kindes vorgelesen hatten. Das Buch, das Bettzeug, alles sollte so bleiben, wie es gewesen war.
»Natürlich war es dieselbe Seite wie in unserem Buch«, sagt Helen.
John Boyle trank zu Hause jeden Abend sehr viel Bier. Er sagte, er wolle kein anderes Kind mehr haben, weil er ihr nicht mehr traue. Wenn sie nicht wisse, was sie falsch gemacht habe, sei das Risiko einfach zu groß.
Meine Hand auf dem erwärmten Lederpolster: Das fühlt sich an, als würde ich einen Menschen berühren.
Als wir durch Colorado,
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