Lulu
die Art ihrer Verwendung. Erhabenheit und Lächerlichkeit werden von der Mitwelt selten zuverlässig unterschieden. Das wahrhaft Erhabene wurde in seinen Anfängen fast immer als lächerlich empfunden, und wie manches Gebaren, das von sämtlichen Mitwirkenden als erhaben empfunden wurde, entpuppte sich im Handumdrehen als größte Lächerlichkeit.
Summum jus
und
summa injuria
sind Begriffe, die sich bis ans Ende aller Zeiten decken werden.
Die Norm, die unsere Kultur für die in diesem Gedankengang erwähnten Tatsachen seit zwei Jahrtausenden festgehalten hat, und die ihre Geltung voraussichtlich in alle Ewigkeit behalten wird, ist das Schicksal unseres Religionsstifters, der vom Synedrium in Jerusalem wegen
Gotteslästerung
zum Tode verurteilt wurde. Dabei ergibt sich aus der Darstellung der Evangelien, dass sich das Synedrium erst nach langem Zögern und mit äußerstem Widerstreben des Falles annahm, gezwungen durch eine Herausforderung, die ihm gar keine Wahl mehr übrig ließ, nämlich durch das im Vorhof des Allerheiligsten ausgesprochene Gleichnis von der Zerstörung des Tempels und seinem nicht mehr als drei Tage in Anspruch nehmenden Wiederaufbau. Ebenso ergibt sich aus den Evangelien, dass das Synedrium seines Richteramtes mit einer Würde waltete, die von keinem Richter der Gegenwart übertroffen werden kann. Trotzdem bleibt in solchen Fällen das Verhängnis, gerichtet zu werden, immer ein milderes als das Verhängnis, richten zu müssen.
Der letzte Grund, weshalb ich diesen als Norm bezeichneten Fall angesichts der über mein Stück ausgesprochenen Urteile erwähne, ist der Unterschied zwischen bürgerlicher Moral, zu deren Schutz der Richter berufen ist, und menschlicher Moral, die sich jeder irdischen Gerichtsbarkeit entzieht. In allen drei über das Drama gefällten Urteile wurde die käufliche Liebe ohne weiteres als Unsittlichkeit und ihre Ausübung als Unzucht bezeichnet. Diese Bezeichnung ist vom Standpunkt der bürgerlichen Moral aus vollkommen zutreffend.
Nun haben sich aber ehrwürdige Dichter aller Zeiten von König Cudraka (»das irdene Wägelchen«) bis auf Goethe (»der Gott und die Bajadere«) berufen gefühlt, die unglücklichen Opfer der käuflichen Liebe gegen die allgemeine Ächtung in Schutz zu nehmen. Und Jesus Christus sagt zu den Geistlichen und Richtern seiner Zeit: »Wahrlich, ich sage euch, die Steuereintreiber und die Huren werden eher in das Reich Gottes kommen als ihr.« (Evangelium Matthäi, Kap. 21 , V. 31 .) Von seinem Standpunkte aus kann Jesus Christus gar nicht logischer, gar nicht folgerichtiger sprechen, denn er baut das Reich Gottes für die Mühseligen und Beladenen, nicht für die Reichen, für die Kranken, nicht für die Gesunden, für die Sünder, nicht für die Gerechten. Dieser Ausspruch im Verein mit der verblüffenden Echtheit des gegen den »Tempelschänder« gepflogenen Gerichtsverfahrens ist mir auch der schlagendste Beweis gegen die Behauptung heutiger Bibelforschung,
dass Jesus nie gelebt habe
und dass die Erzählungen der Evangelien nur eine fromme Erdichtung späterer Kirchenältesten darstellen, denn welcher Geistliche wagt es je, diesen Ausspruch auch nur auf der Kanzel zu zitieren?
Aber, höre ich den Richter fragen, geht denn die Kultur nicht jämmerlich daran zugrunde, dass die Mühseligen, die Kranken und die Sünder in dieser Moral ihre Rechtfertigung finden? – Auf diese Frage weiß ich Antworten vollauf, die jede Besorgnis beschwichtigen; denn wenn die menschliche Moral höher als die bürgerliche stehen will, dann muss sie allerdings auch auf eine tiefere umfassendere Kenntnis vom Wesen der Welt und des Menschen gegründet sein. Aber ich dränge mich ohne ausdrückliche Aufforderung nicht zu der Aufgabe, die Aussprüche unseres Religionsstifters vor dem Richter zu verteidigen.
An Stelle des Personenverzeichnisses möge dem Drama der Theaterzettel der schönen, mir unvergesslichen Aufführung vorausgehen, die
Karl Kraus
in Wien veranstaltete.
Karl Kraus empfange auch an dieser Stelle nochmals meinen Dank dafür.
Prolog in der Buchhandlung
Personen
Der normale Leser
Der rührige Verleger
Der verschämte Autor
Der hohe Staatsanwalt
***
Der Prolog kann in entsprechenden Überkleidern und Kopfbedeckungen von den Darstellern des Rodrigo, des Casti-Piani, des Alwa und des Schigolch gesprochen werden. Rodrigo in hellem Sommerüberzieher und Lodenhütchen, Casti-Piani in Schlafrock und Samtkäppchen, Alwa in Havelock und
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