Lulu
zum höchsten menschlichen Glück verhelfen würden, gelingt es ihnen nicht, den Fluch, der sie als ein unseliges Erbteil beherrscht, abzuschütteln, sondern sie gehen, unbrauchbar für die menschliche Gemeinschaft, unter den größten Qualen elend an ihrem Verhängnis zugrunde. Abschreckender kann für das Empfinden des Zuschauers die Unnatürlichkeit als solche nicht gebrandmarkt werden. Wenn der Zuschauer aus dieser Vorführung auch noch ästhetischen Genuss und einwandfreien seelischen Gewinn davonträgt, so erhebt das die Darstellung aus dem Gebiete der Moral in das Gebiet der Kunst.
Trotzdem hätte mich der Fluch der Unnatürlichkeit allein nicht dazu verlockt, ihn zum Gegenstand dramatischer Gestaltung zu wählen. Ich tat das vielmehr, weil ich dieses Verhängnis, wie es uns in unserer heutigen Kultur entgegentritt, tragisch noch nicht behandelt fand. Mich beseelte der Trieb, die gewaltige menschliche Tragik außergewöhnlich großer, völlig fruchtloser Seelenkämpfe dem Geschick der Lächerlichkeit zu entreißen und sie der Teilnahme und der Barmherzigkeit aller nicht von ihr Betroffenen näher zu bringen. Als eines der wirksamsten Mittel zur Erreichung dieses Zieles schien es mir nötig, das niedrige Gespött und das gellende Hohngelächter, das der ungebildete Mensch für diese Tragik bereit hat, in einer möglichst ausdrucksvollen Form zu verkörpern. Zu diesem Zweck schuf ich die Figur des Kraftmenschen Rodrigo Quast. Rodrigo Quast ist der Gegenspieler der Gräfin Geschwitz. Während der Arbeit war ich mir der Aufgabe vollkommen bewusst, dass sich die seelischen Evolutionen, in die die Gräfin Geschwitz durch ihr Unglück gepeitscht wird, in sittlicher Hinsicht um so höher erheben mussten, je brutaler ich die Witze dieses Kraftmenschen gestaltete. Ich war mir völlig klar, dass die Witze durch den Ernst, mit dem ich das Geschick der Gräfin Geschwitz behandelte, immer und immer wieder entkräftet und überflügelt werden mussten, und dass zum Schluss der tragische Ernst als bedingungslos anerkannter Sieger den Kampfplatz behaupten musste, wenn das Werk seinen Zweck erfüllen sollte.
Dass es mir mit dem letzten Akt des Stückes gelungen ist, diesen Eindruck hervorzurufen, haben sämtliche Aufführungen bestätigt. Aber auch die über das Drama in seiner ehemaligen Form gefällten Urteile würdigen diese Tatsache. Das Urteil des Reichsgerichtes und mit ihm das des Königlichen Landgerichts II in Berlin bestreiten nur, dass der beabsichtigte Eindruck der Tragik auch im »normalen Leser« hervorgerufen werde. Natürlich nicht unbedingt! Denn zu der großen Masse »normaler Leser« gehört in erster Linie auch der ungebildete Mensch, der in dem Drama selber als Athlet auftritt und gegen dessen gellendes Hohngelächter die Tendenz des Stückes gerichtet ist. Der durch die Satire Gegeißelte empfindet deren Wirkung aber natürlich nicht durch die Lektüre allein, sondern erst dann, wenn er zu seiner größten Überraschung sieht, wie gebildete Menschen das von ihm entworfene Charakterbild lächerlich und verächtlich finden. Übrigens reichen die Unflätigkeiten, die ich diesem Kraftmenschen in den Mund legte, nicht im Entferntesten an diejenigen eines Falstaff, Mephisto oder Spiegelberg heran.
Als ich dieses Drama in seiner ehemaligen Form veröffentlichte, war ich in tiefster Seele von der Überzeugung durchdrungen, damit einer Forderung höchster menschlicher Sittlichkeit zu genügen. Ebenso klar war ich mir über die Tatsache, dass die Veröffentlichung eine Anklage wegen Vergehens gegen die Sittlichkeit oder wegen Verbreitung unzüchtiger Schriften zur Folge haben könnte. Dass die von mir erwartete Folge eintrat, ist mir so wenig ein Beweis gegen wie für die Richtigkeit meiner Überzeugung. Aber es lag von jeher im Wesen unserer geistigen Entwicklung, dass ein Mensch, der auf irgendeinem geistigen Gebiet einen entscheidenden Schritt vorwärts tut, wegen Verletzung dieses selben Gebietes vor den Richter gestellt wird. Ein Arzt, der im Vertrauen auf seine Forschung eine vorher noch nicht erprobte Exstirpation vornimmt, setzt sich dadurch von vornherein und mit vollem Bewusstsein der Gefahr aus, wegen Körperverletzung oder fahrlässiger Tötung angeklagt zu werden. Erfahrungsgemäß berühren sich ja auch alle diejenigen Gebiete in ihren äußersten Konsequenzen, die sich in ihren gewohnten Erscheinungsformen als stärkste Gegensätze gegenüberstehen. Heilmittel und Gift unterscheiden sich nur durch
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