Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
Götter.
Ungerührt blieb
ich im strömenden Regen stehen. Statt mir einen Unterschlupf zu suchen, ging
ich in die Knie und begann, das zerfetzte, blutgetränkte Gewand der Leiche
abzutasten. Was ich mir zu finden erhoffte, wusste ich selbst nicht so genau.
Vielleicht eine Antwort, warum einer von meinesgleichen einen so grundfalschen
Weg einschlagen sollte.
Und ich fand
sie.
Unter der viel
zu großen, dreckstarrenden Jacke des Rattenfängers ertastete ich kaltes, raues
Leder. Ich zog überrascht die Augenbrauen zusammen und schloss die Finger
darum. Ein Buch?
Ich zog den
Band hervor und betrachtete ihn im schlechten Licht der flackernden Straßenlaternen.
Das Zeichen, das auf dem Umschlag abgebildet war, war mir fremd, dennoch konnte
ich nicht leugnen, dass es an einer Saite in meinem Inneren zupfte, die bis zu
diesem Tag sorgfältig in mir verborgen und unberührt geblieben war.
Was sollte ein
größenwahnsinniger Obdachloser mit einem antiken Buch?
Da ich nicht
wollte, dass sich die altersschwachen Seiten im strömenden Regen auflösten,
öffnete ich den Folianten nicht, sondern schob ihn stattdessen unter meinen
eigenen Mantel und schloss diesen. Ich konnte spüren, wie das raue Leder an
meinem halb getrockneten Blut haften blieb, das mein Hemd schwer machte.
›Dann bringen
wir dich mal ins Trockene‹, murmelte ich und packte den Toten an den Handgelenken.
Plötzlich wurde
ich von einem hellen Lichtstrahl geblendet. Wie ein Reh, das in einen Autoscheinwerfer
gerät, gefror ich mitten in der Bewegung.
›Keine
Bewegung. Mach jetzt bloß keine Dummheiten, Freundchen. Lass langsam die Leiche
los.‹
Wie in Zeitlupe
drehte ich den Kopf in die Richtung, aus der die Stimme kam. Ein pitschnasser
Polizist in Uniform hatte sich aus einer der zahlreichen umliegenden Gassen an
mich herangeschlichen. Durch das Rauschen des heftigen Regens hatte ich ihn
nicht kommen gehört, und ich war viel zu beschäftigt mit anderen Dingen
gewesen, um seine Anwesenheit zu spüren. Eine zitternde Waffe war auf mich
gerichtet, an der das Wasser in Strömen hinablief. In den Augen des Beamten
stand Furcht.
Ich schluckte.
Langsam löste ich meinen Griff um die Handgelenke des Toten und hob die Hände.
›Nicht so
schnell!‹, zischte der Polizist. ›Wir wollen doch nicht, dass hier ein
Missverständnis entsteht.‹
›Es ist alles
ganz anders, als Sie denken‹, sagte ich bemüht ruhig. ›Ich musste diesen Mann töten.
Er hat mich angegriffen.‹
›Das kannst du
mir auf dem Revier erzählen‹, gab der Polizist zurück. Seine Augen huschten
nervös hin und her, vielleicht befürchtete er, dass ich noch einen versteckten
Komplizen aus dem Ärmel zauberte.
›Bei der
Gelegenheit werden wir uns auch gleich über ein paar verschwundene Kinder
unterhalten. Ich habe den Eindruck, als könntest du mir eine ganze Menge
erzählen. Und jetzt komm hier rüber. Aber halte deine Hände über den Kopf.‹
Ich hob die
Arme, blieb aber, wo ich war. ›Sie verstehen das alles falsch. Dieser Mann ist
verantwortlich für die verschwundenen Kinder.‹
›Es ist immer
einfach, die Schuld auf einen Toten zu schieben, nicht wahr?‹ Die Mundwinkel
des Beamten zuckten. ›Beweg endlich deinen Hintern hierher, oder ich mache dir
ein paar neue Luftlöcher.‹
Ein weiterer Donnerschlag
über unseren Köpfen ließ uns gleichermaßen zusammenzucken. Kaum einen Atemzug
später breitete sich ein seltsamer, scharfer Geruch um uns herum aus, fast wie
Schwefel. Meine Augen weiteten sich.
›Riechen Sie
das?‹
Der Polizist fuchtelte
mit seiner Pistole. Er hielt sie mittlerweile mit beiden Händen,
wahrscheinlich, um das Zittern des Laufes zu reduzieren. ›Versuche nicht, mich
abzulenken. Ich will, dass du augenblicklich hier rüber kommst. Wenn du
glaubst, ich schieße nicht, hast du dich getäuscht. Ich habe schon ganz andere
Kaliber als dich außer Gefecht gesetzt.‹
Natürlich
konnte er nichts riechen. Er verfügte nicht über denselben, feinen Sinn wie
ich, der mir die allmähliche Verschiebung der Realität signalisierte. Endlich
begriff ich, was geschehen war: Die Waage, die die Energien der Welt
ausbalancierte, hatte sich unmerklich auf eine Seite geneigt. Dass so etwas an
manchen Orten bereits vorgekommen sein sollte, hatte ich gehört, mit eigenen
Augen war ich jedoch noch nie Zeuge dieses äußerst gefährlichen Phänomens geworden.
Ich wusste nicht, ob es der Tod des mächtigen Magiers, seine schrecklichen
Gräueltaten oder alles zusammen
Weitere Kostenlose Bücher