Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
gehen. Ich wusste, dass es vorüber war. Aber ich
hatte gesiegt.
Plötzlich
ertönte ein dünnes Flüstern an meinem Ohr, und ein eisiger Windhauch strich um
meine Wange, durch mein Haar. Es war ein verbotenes Flüstern, abgrundtief böse
und verdorben, und der Wind, der es herantrug, war voll finsterer Mächte. Es
war die Seele des Rattenfängers, die sich von seinem geschundenen Körper gelöst
hatte und nun mit verlockender Stimme zu mir sprach, in einer Sprache, die
jedes lebende Wesen zu verstehen vermag.
Ich stöhnte
unwillig, wurde von der Kälte des nahenden Todes gebeutelt. Ich versuchte, das
Flüstern zu verdrängen, zu übertönen, aber mein Körper und mein Geist waren
gleichermaßen am Ende. Ich konnte nicht einmal mehr einen Gedanken aufbieten.
Nimm mich in
dich auf , hauchte es an meinem Ohr. Ich kann dich retten. Nimmst du mich
nicht, so gehe ich auf ewig verloren. Und wäre das nicht eine Vergeudung, eine
schreckliche Vergeudung? Öffne dich mir, Sterbender. Öffne dich für die Macht.
Heiße Tränen
schossen mir in die Augen. Meine Lungen brannten mittlerweile wie Feuer, die
Atemnot war unerträglich. Mir blieben nur noch Sekunden. Der Tod über mir
neigte den Kopf und starrte mich vorwurfsvoll an, seine Hand um meine Schulter
rüttelte erneut. Es wurde Zeit, ich musste ihm folgen.
Oder ich blieb
noch ein Weilchen hier.
Du könntest
noch viel Gutes tun , erhob sich das Flüstern. Tu es nicht für dich. Tu
es für die Welt, die dich noch braucht. Nimm eine Seele in dich auf und rette
zwei davor, in der Unendlichkeit zu verschwinden. Na los, zögere nicht länger.
TU ES!
Es wäre gelogen
gewesen, zu sagen, ich hätte keine Wahl gehabt. Jeder hat eine Wahl, immer
wieder von Neuem.
Aber im Grunde
genommen war vorherbestimmt, welche ich treffen würde.
Ich stieß den
Tod nieder, der zornig rückwärts taumelte, und ließ in derselben Sekunde die
schwarze, verdorbene Seele des Rattenfängers in mich ein. Neue, unbändige Macht
schoss durch meine Adern, und mit einem Ruck flogen meine Lider auf. Ich
keuchte, als Kraft sengenden Flammen gleich durch meinen malträtierten Leib
floss, neues Leben darin entzündete. Ich musste nicht einmal einen Gedanken
daran verschwenden, ganz von selbst nahmen meine Rippen ihren ursprünglichen
Platz ein, Risse füllten sich mit neuer Knochenmasse auf, meine Lunge überzog
sich mit weicher, unversehrter Haut, das Blut wurde aus ihrem Inneren und
zurück in die Adern gepresst, wo es sofort vom heftig pochenden Herzen verteilt
wurde. In meiner Brust herrschte wilde Geschäftigkeit, und ehe ich mich versah,
waren die Schäden wieder rückgängig gemacht, von derselben Kraft, die sie zuvor
verursacht hatte.
Schwer atmend rappelte
ich mich in eine kniende Position hoch und presste eine Hand gegen den Oberbauch,
tastete ihn ungläubig ab. Nun herrschte Stille in mir, eine trügerische,
geradezu beängstigende Stille.
Ich hatte es
geschafft. Ich hatte überlebt.
Ich erhob mich
vollends und drehte mich um, sah auf den Toten herab, der aus leeren, von Blut
gefüllten Augen in den Nachthimmel starrte. Die gesamte obere Hälfte seines
Schädels war förmlich explodiert, und sein Kopf war nur mehr eine widerliche,
blutstarrende Masse aus Haar, Gehirn und Knochen. Mein Magen verkrampfte sich,
ein trockenes Würgen kletterte meine Kehle empor.
Einen Moment
kämpfte ich noch dagegen an, dann gab ich dem Brechreiz nach und übergab mich
ausgiebig in den nächstgelegenen Rinnstein. Als schließlich nur noch Magensäure
meine Speiseröhre verließ und sich mein Bauch nicht mehr zusammenkrampfte,
stützte ich mich auf meinen Oberschenkeln ab und stemmte mich hoch. Keuchend
wischte ich mir mit dem Handrücken übers Kinn.
Nun, meine
Hoffnung, den Kindermörder unauffällig aus dem Weg zu räumen, war damit wohl
zerschmettert.
Mit Widerwillen
wandte ich mich erneut dem Toten zu, vermied es diesmal jedoch sorgsam, in sein
entstelltes Gesicht zu sehen. Ich musste die Leiche loswerden, aber ich wusste
nicht wie. Schließlich war dies das erste Mal, dass ich einen Mord vertuschen
musste.
Ein eiskalter Regentropfen
landete auf meiner Nase. Ich hob den Kopf und starrte aus zusammengekniffenen
Augen in den schwarzen Himmel. Im nächsten Moment stürzten die Wassermassen
über mich herein, und ich war innerhalb weniger Sekunden bis auf die Knochen
durchnässt. Donner grollte über meinem Kopf, Blitze zuckten und erleuchteten
die Wolkenberge wie die bedrohlichen Silhouetten verstimmter
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