Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
als achtete er genauestens darauf, nicht sein Misstrauen zu
erregen.
»So,
ich habe dich rausgeholt«, machte er das Tier wieder auf sich aufmerksam, das
voll und ganz damit beschäftigt war, seine neu gewonnene Freiheit auszukosten.
»Und jetzt?«
Der
Vogel überraschte Taoyama ein weiteres Mal, indem er sofort auf seine Worte
reagierte, zu ihm zurückflog und sich auf seiner Schulter niederließ.
»Du
bist ja wohl ein ganz schlaues Kerlchen.« Taoyama seufzte. »Mir wäre zwar ein
Wesen ohne Federn lieber gewesen – eines mit Daumen und einem Gehirn –, aber
ich muss wohl nehmen, was ich kriegen kann.«
Der
Vogel reagierte nicht – er war damit beschäftigt, ausgiebig sein Gefieder zu
putzen.
Taoyama
beschloss, keine weitere Zeit zu vertrödeln, und verließ gemeinsam mit seinem
neuen Gefährten die Wohnung. Mehrere Stufen auf einmal nehmend, eilte er die
Treppe hinab, bis er wieder im Erdgeschoss angelangt war. Als er die von ihm
eingetretene Haustür erreichte, erstarrte er mitten im Schritt. Vor ihm erhob
sich eine senkrecht abfallende, spiegelglatte Wand aus Wasser, und dahinter war
nichts als undurchdringliche Schwärze. Das Unwetter musste während seines
Aufenthaltes im Trockenen noch an Heftigkeit zugenommen haben.
Mensch
und Vogel sahen sich an, und in dem Gesicht des Tieres lag ein erschreckender
Ernst. Drei, vier Sekunden hielt Taoyama dem Blick seines Begleiters stand,
dann nahm er den Vogel mit beiden Händen von der Schulter, der die Behandlung
seelenruhig über sich ergehen ließ, und setzte ihn in seine weite Manteltasche,
wo er vor der schlimmsten Macht des Sturmes geschützt sein würde.
Ein
sachtes Ziehen an seinem Mantel verriet ihm, dass der Vogel bereit war. Taoyama
hatte sich nicht getäuscht: Er schien den Weg zu kennen, und er würde ihn
führen.
Taoyama
verzog die Lippen zu einer Grimasse, atmete tief durch und trat mit weit
ausgreifenden Schritten in den Sturm vor sich. Es war ein Gefühl, als würde er
von zahlreichen feinen Nadeln attackiert, die sich schmerzend in seine Haut und
seine Augen bohrten. Er keuchte, was sich als schwerer Fehler erwies, denn kaum
hatte er den Mund geöffnet, drang auch schon ein Schwall eiskalten Wassers
hinein, das er instinktiv krampfhaft hinunterschluckte. Wie gemahlenes Glas
stach die Kälte in seine Kehle und trieb ihm erneut die Tränen in die Augen,
doch er hatte aus seinem Missgeschick gelernt und verkniff sich einen weiteren
Schrei. Die Hand schützend vor das Gesicht gehoben, stürmte er blindlings
vorwärts, die freie Linke instinktiv auf den Kanarienvogel herabgesenkt, der in
seiner Tasche spürbar unter der Wucht der Wassermassen erzitterte, aber nicht
aufhörte, ihn mit sachten Stößen mit Flügeln und Füßen in eine bestimmte Richtung
zu dirigieren.
Auf
diese Weise kämpften sich Mensch und Tier durch den Untergang der Welt.
Plötzlich,
als Taoyama die Hoffnung, je an sein Ziel zu gelangen, bereits aufgegeben
hatte, wurde er von dem Winzling in die Hüfte gebissen. Taoyama blieb so abrupt
stehen, als wäre er gegen eine unsichtbare Barriere geprallt, und im selben
Moment spürte er es auch. Aus zusammengekniffenen Augen starrte er in das von
den strömenden Wassermassen verzerrte Bild der Wirklichkeit, das immer wieder
vor seinen Netzhäuten verschwamm und auseinanderdriftete, als blickte er auf
die bewegte Wasseroberfläche eines Sees. Obwohl er die Häuser ringsum nicht
einmal sehen, geschweige denn wiedererkennen konnte, wusste er doch mit einem
Mal ganz genau, wo er gelandet war. Dieses nagende, faulige Gefühl in seinen
Innereien befiel ihn nur an einem einzigen Ort auf der Welt.
Er
befand sich an der Quelle allen Übels, der MONDSCHEINGASSE. Wieder war er
hierher gelangt. Es schien gleich, wie oft oder weit er sich von ihm entfernte,
immer wieder führten seine Wege ihn an diesen Sitz der Schatten zurück.
Taoyama
schnaufte und wischte sich in einer sinnlosen Geste das Wasser aus dem Gesicht.
Angestrengt starrte er durch den unzerreißbaren Regenschleier. Für einen kurzen
Augenblick war ihm, als hätte er unmittelbar vor sich einen verschwommenen
Schemen erblickt, der sich nicht minder wie Taoyama zuvor unter den Gewalten
des Sturmes krümmte, und je länger er in die Richtung starrte, desto sicherer
war er sich. Die verzerrte Gestalt tauchte erneut auf, gefolgt von einer
zweiten, einer dritten. Taoyamas Herz pochte schneller, als er mit seinem
magisch geschulten Auge die wie Fackeln leuchtenden Auren der
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