Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)
Beschwörung, die für das Ritual
vonnöten sein würde. Mittlerweile kannte ich die Worte in- und auswendig,
ebenso wie Andreas, dem ich sie mehrere Male hatte vorlesen müssen. Er selbst
hatte den alten Folianten kein einziges Mal angefasst, seit ich ihn von Hansen
gestohlen hatte. Das war seltsam, aber vieles an diesem Magier war mir unbegreiflich.
»Ich
will das nicht tun«, murmelte ich.
»Natürlich
willst du es. Es ist der einzige Zweck deines irdischen Lebens, Laura.«
Ich
nickte. »Ja, das stimmt, ich will es. Aber das sollte ich nicht. Die Energien
wieder ins Gleichgewicht bringen ist eine Sache, doch was danach kommt, wird
anders sein, nicht wahr? Das wird nicht mehr zum Wohle der Menschheit
geschehen. Ich weiß sehr gut, dass du nicht vorhast, mich unverrichteter Dinge
ziehen zu lassen, sobald die Welt wieder in der Waage liegt. Im Grunde genommen
gibt es zwei Möglichkeiten: Entweder du wirst mich dazu nötigen, mit dir
gemeinsam eine Herrschaftsposition einzunehmen, um die Menschheit zu knechten,
oder, was ich für weitaus wahrscheinlicher halte, du wirst dir meine Macht
zueigen machen und allein herrschen.«
Andreas
schüttelte ernst den Kopf, seine Finger berührten mein Schlüsselbein, zogen
behutsam dessen Erhebungen nach. Ich fühlte mich wie ein Haustier, das von
seinem gedankenverlorenen Besitzer gekrault wird.
»Ach,
Laura, du dummes Kind. Ich will über nichts herrschen, und noch weniger werde
ich dich töten. Wir sind Geschwister, du und ich, unsere Seelen auf ewig
miteinander verwoben. Unsere Leben lassen sich nicht so einfach voneinander
trennen, nicht einmal dann, wenn einer von uns beiden das wollte. Was nach dem
Ritual geschehen wird, kann ich dir nicht beantworten, denn die Zukunft bleibt
jedem von uns, ganz gleich, wie mächtig er auch sein mag, verborgen. Aber in
jedem Fall kann ich dir versichern, dass nichts von dem eintreten wird, was du
fürchtest.«
»Dann
lässt du mich also gehen? Zurück zu Kiro, zu meiner Familie?«, fragte ich
zweifelnd.
Andreas´
Lächeln blieb unverändert, aber seine liebkosenden Berührungen verschwanden von
meiner Haut. »Unsere Leben lassen sich nicht so einfach voneinander trennen«,
wiederholte er bloß. »Ich werde dich nicht davon abhalten, mich zu verlassen,
aber dazu wirst du nicht in der Lage sein. Das hast du ja wohl selbst gesehen,
als du mit Krybch zu mir zurückgekehrt bist, obwohl du schon mit mir abgeschlossen
zu haben glaubtest.«
»Ich
bin nicht um deinetwillen wiedergekommen«, stellte ich klar, wusste aber
selbst nicht, ob das der Wahrheit entsprach.
Andreas
nickte wissend. »Und genauso wird es nicht um meinetwillen sein, wenn du ein
weiteres Mal gehst und wiederkehrst. Es bleibt sich gleich. Wenn der Junge noch
am Leben sein sollte, wirst du ihn nur dann wiedersehen, wenn er sich auch mit
meiner Gegenwart abfinden kann. Und ich mich mit der seinen, was ich überaus
stark bezweifle.«
»Er
ist dein Sohn«, sagte ich und kam mir dabei wie eine kaputte Schallplatte vor,
die stets denselben Akkord wiedergab.
»Er
ist Andreas´ Sohn. Das ist ein Unterschied.« Draußen rollte ein mächtiger
Donnerschlag über den Himmel, und das grelle Licht des Blitzes ließ Andreas´
Antlitz aufleuchten wie das kontrastierende Negativbild einer Fotografie. Für
einen Moment glaubte ich, unter die Illusion zu blicken, die mir den
gesitteten, blasshäutigen Magier vorgaukelte, und jene grässliche Fratze zu
erkennen, die sich mir bereits offenbart hatte, als ich Ihn zum ersten
Mal in Hansens Garten demaskierte – jene Kreatur, die sich Andreas´ Körper
ebenso übergestülpt hatte wie seine ehemals reine Seele; der Rattenfänger, der
Widersacher, das missratene Balg des Krybch .
»Genug
geredet«, sagte Andreas aufgeräumt. Das Bild, das der kurz aufzuckende Blitz
enthüllt hatte, war wieder hinter magischen Schleiern verschwunden. »Es ist an
der Zeit, Laura. Der schwarze Mond befindet sich beinahe im Zenit. Die Kräfte
des Universums sind empfänglich, sie erwarten unser Eingreifen.« Er erhob sich,
wobei er mich behutsam mit auf die Füße zog. Seine eisigen Lippen hauchten
einen Kuss auf meine Stirn. »Bald werden sich all deine Fragen beantworten. Du
wirst einen Blick in dein tiefstes Inneres tun, dich selbst finden. Gemeinsam
begründen wir das neue Zeitalter.«
Ich
schloss Krybch und presste es an die Brust, spürte, wie es sich wie ein
ungeduldiges Tier in meinem Griff zu winden begann. Es konnte kaum erwarten,
mit kosmischen Kräften
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