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Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)

Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition)

Titel: Luna Atra - Der schwarze Mond (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Melanie Vogltanz
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befand und nicht sofort entdeckt werden konnte. Der Innenarchitekt
dieses Zimmers musste einen überaus morbiden Humor gehabt haben.
    Taoyama
stöhnte und verdrehte die Augen. Er klappte das Messer zusammen und ließ es
wieder in seiner Tasche verschwinden.
    »Musste
das sein?«, fragte er den Ziervogel. »Meine Nerven sind auch so schon am Ende.«
    Wieder
blinzelte der Kanarienvogel und hüpfte nervös auf seiner Stange nach links und
rechts. Er flatterte mit den Flügeln, als wollte er abheben, und ein klägliches
Fiepen drang aus seiner Kehle.
    »Sag
bloß, sie haben dich vergessen!«, empörte Taoyama sich mit gespielter Entrüstung.
»Ich glaube, sie hatten gänzlich andere Sorgen als ihr entzückendes Haustier,
mein Lieber. Schlag sie dir also aus dem Kopf. Die kommen nicht zurück.«
    Mit
einem Gefühl leiser Betroffenheit stellte Taoyama fest, dass das Tier bis aufs
Gerippe abgemagert war. Wenn seine Vermutung zutraf und die Familie, die hier
wohnte, tatsächlich erst vor Kurzem das Weite gesucht hatte, dann hatten sie
ihr Haustier schon lange zuvor vernachlässigt – ebenso wie den Rest des
Zimmers.
    »Ach,
verdammt, Hunger ist ein mieses Gefühl«, murmelte Taoyama und ging in die
Hocke, um sich nach einem Futtersack für den Vogel umzusehen. Er wurde beinahe
sofort fündig, und das Tier flatterte aufgeregt, als Taoyama die kleine Tür der
Voliere öffnete und den Futternapf bis zum Rand füllte. Zufrieden gurrend fiel
der Vogel darüber her. Der Anblick ließ Taoyama schmunzeln. Liebe ging wohl
doch durch den Magen.
    »Ich
habe dir einen Gefallen getan, also tu du mir auch einen«, sagte er. »Sprich
mit mir. Verwandle dich in einen Menschen.«
    Der
Vogel hob den Kopf und sah Taoyama aus traurigen Augen an. Da war ein
Verständnis in den Pupillen des Tieres, die den Japaner unvermittelt in Unruhe
versetzten. Sein lächerlicher Scherz von gerade eben kam Taoyama plötzlich ganz
und gar nicht mehr witzig vor.
    Misstrauisch
beäugte er den schönen Kanarienvogel genauer, der aufgehört hatte, Korn um Korn
aus seinem Napf zu picken und Taoyamas Musterung mit einer geradezu vorbildlichen
Ruhe über sich ergehen ließ. Sein Verdacht wurde zur Gewissheit. Mit diesem Tier
war etwas ganz und gar nicht so, wie es sein sollte.
    »Was
bist du?«, fragte Taoyama scharf. »Eine Art Spion? Hat Er dich geschickt?«
    Selbstverständlich
antwortete das Tier nicht. Stattdessen erschien ein eigenartiger Ausdruck in
seinen schwarzen Augen, den Taoyama im ersten Moment nicht zu deuten vermochte.
War es möglich, dass ein Vogel so etwas wie Schuldgefühle empfand? Wenn das stimmte, dann musste der Japaner mit seiner
Vermutung richtig liegen oder zumindest der Wahrheit sehr nahe kommen, und das
allein wäre bereits Grund genug gewesen, dem kleinen Piepmatz den dürren, gefiederten
Hals umzudrehen. Doch Taoyama tat nichts dergleichen, denn plötzlich kam ihm
eine – zugegeben verrückte – Idee.
    »Gut,
Vogel«, wandte er sich an sein gefiedertes Gegenüber und versuchte, dabei ein
möglichst grimmiges Gesicht aufzusetzen. »Eigentlich sollte ich dich auf der
Stelle töten, hier und jetzt. Doch du kannst deinen Kopf noch einmal aus der
Schlinge ziehen, wenn du tust, was ich von dir verlange. Ich bin auf der Suche
nach Verbündeten, und ich weiß, dass du mir helfen kannst.« Das war glatt
gelogen, doch für seine Verhältnisse klang dieser Schwindel sogar verhältnismäßig
überzeugend. »Also, steht das Geschäft? Dein Leben gegen ein wenig Hilfe?«
    Taoyama
hatte bislang nicht gewusst, dass ein Vogel genervt die Augen verdrehen konnte
– dieser zumindest konnte es.
    »Ich
nehme einmal an, das heißt ja«, folgerte der Japaner und musste gegen seinen
Willen lächeln. Taoyama machte Anstalten, die Voliere erneut zu öffnen, als er
zögerte. »Woher weiß ich, dass du dich an unsere Abmachung hältst, und nicht
einfach verschwindest, sobald wir die Wohnung verlassen haben?«, fragte er.
    Wie
zur Antwort ertönte in diesem Augenblick ein krachender Donnerschlag, der das
gesamte Gebäude in seinen Grundfesten erzittern ließ. »Ach ja, genau«, murmelte
er. »Deshalb.«
    Der
Vogel pfiff bestätigend.
    Dieses
Mal zögerte Taoyama nicht mehr, den Riegel der Gittertür zur Seite zu schieben
und den Käfig zu öffnen, und kaum hatte er es getan, schoss der Kanarienvogel
auch schon wie ein aus Gold gegossener Blitz an ihm vorbei und flatterte
schrill pfeifend gen Decke, blieb aber zu Taoyamas Überraschung immer in seiner
Reichweite,

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