Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
sich, ihnen war viel dazwischengekommen. Eine Woche zuvor waren beispielsweise zwei Leichen in einer Wohnwagensiedlung gefunden worden. Schrottreife und halbverrottete Wohnwagen ohne Heizung, deren Fenster durch Pappe ersetzt waren. Die Wagen hatten hinter einem gepflegten Anwesen gestanden, einem hübschen Gutshof mit großen Treibhäusern. Die Toten hatten keine Papiere gehabt. Es hatte sich herausgestellt, dass es sich um Polen gehandelt hatte, die vermutlich erfroren waren, falls sie nicht an einer Alkoholvergiftung oder einem epileptischen Anfall aufgrund von Alkoholmissbrauch gestorben waren. Weißer Sklavenhandel. Pfui Teufel!
Louise hatte sich jedenfalls die Zeit genommen, ihm den Fall gründlich zu präsentieren. Es war jetzt einen Monat her, dass die Zeitungen über Veronika hergefallen waren und Claesson das Gefühl gehabt hatte, gleich zu explodieren. Das einzig Positive in dieser Zeit war Veronikas und sein Besuch in Linköping gewesen.
Ohne Umschweife hatte ihm Louise an den Kopf geworfen, dass das, was er tue, ein Dienstvergehen war und er deswegen in richtige Schwierigkeiten geraten könne.
Das würden sie doch wohl auf die Reihe kriegen?, hatte er beharrt. Es brauche ja niemand zu erfahren, dass er sich an der Ermittlung beteiligte.
Sie fand auch, dass er gefühlsmäßig zu sehr involviert war, um ihnen nützlich sein zu können. Er müsse sich erst einmal abregen, eigentlich müsse man ihm einen Eimer kaltes Wasser über den Kopf schütten. Sie erbot sich buchstäblich, das zu erledigen. Und sie hatte damit natürlich Recht. Sich um eine andere Person zu sorgen war schlimmer, als selbst betroffen zu sein, fand er.
Die unsichtbare Umklammerung der Ohnmacht.
Jetzt wartete er darauf, dass es Benny endlich gelingen würde, auf der Festplatte das richtige Foto zu finden. Schließlich bat ihn Benny, die Leinwand herunterzulassen. Dann erschien das Bild. Er trat zurück. Vor sich sahen sie einen ganz normalen Kassenzettel von ICA in Påskallavik. Er stammte vom 4. Oktober.
»An welchem Tag wurde auf Charlotte Eriksson geschossen?«, fragte Louise. »War das nicht am 5.?«
»Doch«, erwiderte Claesson. »Kurz vor Mitternacht. Eventuell war es auch am 6., kurz nach 24 Uhr.«
»Und wann hat Peter Berg die kleine Matilda gefunden?«
»Am Sonntag. Also am 7.«
Der Kassenzettel war am Rand etwas schmutzig, aber trotzdem gut lesbar. Es war deutlich angegeben, welche Waren gekauft worden waren. Ein Stück Seife, ein Kilo Äpfel, ein Laib Brot und eine Packung Müsli. Außerdem ein Paket Windeln Mini 3-6 kg.
»Wir müssen jemanden nach Påskallavik schicken«, meinte Louise.
Claesson trat einen Schritt vor, als wolle er sich melden, um sofort loszulegen. Louise sah ihn finster an.
»Nicht du«, sagte sie. »Da fahre ich lieber selbst. Und dann müssen wir den Kassenzettel mit den Spuren von Matildas Kleidern und von dem Apfelkarton, in dem das Mädchen lag, abgleichen.«
Claesson schwieg.
»Wir treffen uns in meinem Büro, sobald ich wieder zurück bin«, sagte sie und ging.
Sie hatte ihren Befehlston verwendet, den sie sich in einem Seminar für Polizistinnen antrainiert hatte. Dieser Ton wirkte bei allen, obwohl nicht nur Claesson, sondern auch Benny fand, dass sie übertrieb. Claesson verabschiedete sich und ging zum Mittagessen.
Veronika wäre fast über ein paar graulila Tauben gestolpert, die pickend einen armseligen Mann auf einer Bank umgaben. Er streute ihnen Brotkrümel aus einer Plastiktüte auf die Erde.
Sie befand sich auf dem Mårtenstorget in Lund. Es war feuchtkalt, und die Sonne hatte sich schon seit Tagen, wenn nicht gar Wochen nicht mehr gezeigt. Es ging auf drei Uhr, schien aber bereits zu dämmern. Bei diesem Wetter konnte man richtig schwermütig werden. Die Bäume, die den Platz säumten, hellten die Stimmung jedoch auf. In den Baumkronen brannte die Weihnachtsbeleuchtung. Die Markthalle, auf die Veronika zusteuerte, war mit Girlanden aus Tannenzweigen dekoriert. Die großen, schönen Bogenfenster waren mit Glühbirnen illuminiert.
Sie versuchte, mit dem Kinderwagen die Tauben zu umfahren. Klara schlief und war im Wagen nach unten gerutscht. Veronika blieb stehen, um Klara wieder höher zu setzen.
Aber dann hielt sie einige Sekunden lang inne.
Denn als sie sich vorgebeugt hatte, hatte sie es gespürt. Wie einen Fischschwanz, der weit unten gegen ihr Schambein schlug.
Deutliche Bewegungen des Fetus.
Das kleine Wesen, das in ihr wuchs, brachte sich in Erinnerung.
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