Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
trug. Viele von ihnen trugen ihr Haar so, zumindest die Jungen. Auch Sara-Ida trug ihr Haar in einer mit weißen Perlen besetzten Spange zusammengefasst. Als sie die Spange an diesem Morgen ausgesucht hatte, hatte sie gefunden, dass sie zu der Krankenhauskleidung und zu den kleinen weißen Ohrringen aus Glas passen würde.
Sophie war nicht sonderlich gut aussehend und kaum älter als Sara-Ida. Sie sprach kaum mit Sara-Ida und sah sie nur selten an. Aber Sophie war eine richtige Krankenschwester. Und das weckte in Sara-Ida einen schlummernden Ehrgeiz, als sie den Gang Richtung Treppenhaus entlanggingen.
Warum nicht auch ich?, dachte sie.
Es war noch nicht zu spät, sie war noch nicht einmal zwanzig. Um Fotomodell zu werden, war es auch noch nicht zu spät. Und warum nicht erst das eine und dann das andere? Mama würde das für einen megaguten Vorschlag halten. Sie würde sich freuen, sie umarmen und ihr mit den ganzen Anmeldeformularen für Zusatzkurse helfen. Vielleicht würde sie ihr sogar, falls nötig, etwas Geld geben. Denn Mama fand es super, dass Kajsa bereits an der Fachhochschule studierte. Das war einfach nicht zu übertreffen.
Sophie ließ sich von der Schwester auf der Intensiv genau Bericht erstatten. Sara-Ida verstand nicht alles, sie stand schweigend dabei und versuchte, so viel wie möglich aufzuschnappen. Sie hatte nicht einmal gewagt, Sophie danach zu fragen, welchen Patienten sie abholen sollten, als sie sich auf den Weg gemacht hatten. Sie wollte nicht neugierig wirken und hatte Angst davor, dass man ihr über den Mund fahren würde.
Es handelte sich um eine ungewöhnliche Patientin, der man eine Pistolenkugel aus dem Bauch operiert hatte. Beim bloßen Gedanken daran erschauderte Sara-Ida, nicht nur, weil sie Schusswunden mit Eifersuchtsdramen assoziierte, sondern auch, weil es sich um eine ungewöhnliche Operation gehandelt haben musste.
Daher hatte es sie erstaunt, dass die Patientin ganz normal aussah und nur einen ganz normalen weißen Verband trug, der wie ein Streifen zwischen Schamhaaren und Nabel aussah. Die beiden Krankenschwestern hoben die Decke an und stellten mit Kennermiene fest, dass der Verband vollkommen trocken und strahlend weiß war.
Sara-Ida war vor lauter Anstrengung, alles richtig zu machen, fast gelähmt. Bemüht lächelte sie die Patientin an, als sie das Fußende des Bettes ergriff, um das Bett rückwärts aus dem Zimmer zu schieben. Die Frau erwiderte ihr Lächeln. Sie war zwar bleich, wirkte aber fröhlich.
»letzt geht’s also los«, sagte sie und winkte dem Personal der Intensivstation mit einer schmalen Hand zu.
Sie klang ungewöhnlich heiter für jemanden, der einen Bauchschuss erlitten hat. In den Fahrstuhl, ein Stockwerk nach oben, aus dem Fahrstuhl hinaus.
»Vorsicht!«, fauchte Sophie und sah Sara-Ida mit funkelnden Augen an, als sie an der Fahrstuhlkante anstieß und das Bett schaukelte. »Das kann in der Wunde wehtun.«
Als Sara-Ida gerade an der Schnur des Türöffners ziehen wollte, flog die Tür zur chirurgischen Station krachend auf. Eine Ärztin mittleren Alters mit dichtem, gelocktem Haar und einer ernsten, strengen Miene kam ihnen entgegen. Sie war in Begleitung eines jüngeren Arztes, recht groß und dünn, mit einer lächerlichen, modernen Brille. Er blieb stehen und hielt ihnen die Tür auf, als sie das Bett auf die Station schoben: Sara-Ida am Fußende und Sophie am Kopfende. In dem Augenblick, als er die Türklinke losließ und die Tür zufiel, sah er Sara-Ida an. Er lächelte sie an und nickte, ungefähr als wolle er sagen: »Bis bald!«
Es dauerte nur eine Sekunde, aber ihr wurde ganz warm ums Herz. Ein milder Sturmwind wirbelte durch ihren Körper. Sie spürte, dass sie krebsrot wurde, und wusste plötzlich nicht mehr, wo sie hinschauen sollte. Sophie beobachtete distanziert jede Bewegung, während sie das Bett in das erste Einzelzimmer des Flurs schoben.
»Ihr Mann kommt gleich«, sagte Sophie, als sie wieder auf dem Gang standen.
Das klang ganz so, als sei auch der Mann etwas Besonderes, nicht nur die Patientin.
Sara-Ida nickte. Sie wollte gerade fragen, was an ihm so ungewöhnlich sei, aber da war Sophie bereits im Schwesternzimmer verschwunden, in das sie sich nicht hineintraute.
Noch nicht.
Louise Jasinski versuchte, alle Hebammen und Ärztezentren der Gegend zu erreichen.
Sie versuchten, eine Frau ausfindig zu machen, die ein Kind erwartet hatte und mit deren Niederkunft in diesen Tagen zu rechnen gewesen war. Das war
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