Lundborg-Westmann & Claes Claesson - 06 - Der Tröster
handelt es sich um den ältesten Studentenball in Lund. Bei meinen Verhältnissen … ich komme aus Figeholm, und meine Eltern haben beide nicht studiert, damals war das auch nicht üblich. Wie auch immer, ich hatte das Glück, zu einer Zeit die Schule zu besuchen, zu der bereits allen die höheren Schulen offen standen. Mir ist auch immer alles leichtgefallen. Ich habe in Lund an der Technischen Hochschule ein Ingenieurstudium absolviert, und zwar in der kürzest möglichen Zeit.« Er konnte seinen Stolz kaum verbergen. »Ich hatte keine große Ballerfahrung. Ich musste einen Frack mieten und forderte Damen in langen Kleidern zum Tanz auf.«
Louise dachte darüber nach, ob sie seit ihrer Hochzeit jemals wieder ein langes Kleid getragen hatte. Sie war eine Braut in Weiß mit Schleier und allem Drum und Dran gewesen, aber das war auch die einzige Gelegenheit geblieben, bei der sie lang getragen hatte.
»Ich war also schon einige Jahre in Lund gewesen, als Charlotte plötzlich auf diesem Ball schräg gegenüber von mir saß. Sie trug ein dunkelblaues, ärmelloses Kleid aus einem glänzenden Stoff. Daran erinnere ich mich. Ich erinnere mich auch, dass sie unsicher, fast schüchtern wirkte. Sie war neu in der Stadt, das sah man ihr an der Nasenspitze an. Ich versuchte, ihrem Blick zu begegnen, aber das war schwierig. Wir feierten in einem burgähnlichen Gebäude aus dem 19. Jahrhundert mitten in der Stadt in einem Park, der Lundagård heißt. Der Saal gehörte der Akademischen Vereinigung und war groß. Es wurden Kartoffelklöße mit Preiselbeeren und Milch serviert. Ungewöhnlicherweise keine zerlassene Butter. Sonst ist mir eigentlich ein Stück Butter auf diesen Kartoffelklößen lieber. Sie läuft dann wie Lava herunter. So hat das meine Mutter immer zubereitet.«
Louise nickte, sie aß die Klöße auch lieber mit Butter.
»Ich bin abgeschweift. Falls Sie sich fragen, welches Dessert es gab, dann war das natürlich Småländischer Käsekuchen. Unmengen von Kalorien. Aber damals konnte man noch essen, ohne auf die Figur zu achten. Wir tranken Bier und Schnaps. Charlotte nippte nur. Unter den Tisch trinken war also nicht.« Er lachte.
»Ist sie anschließend mit Ihnen nach Hause gegangen?«, fragte Louise, die langsam richtig neugierig wurde.
»Nein. So einfach war das nicht«, erwiderte er und schüttelte den Kopf. »Sie war im Handumdrehen verschwunden. Ich versuchte sie zu vergessen. Ich wusste natürlich, wie sie hieß, ich hatte mir ihre Platzkarte unter den Nagel gerissen. Aber ich hatte damals nicht genug Selbstbewusstsein, um mit ihr Kontakt aufzunehmen. Noch dazu mit diesem Nachnamen.«
»Kannten Sie sie denn schon aus Oskarshamn?«
»Nein. Sie war so viel jünger als ich, dass wir nicht zusammen auf dem Gymnasium waren, aber ihr Vater war hier in Oskarshamn zweifellos eine Persönlichkeit. Dann verging der Herbst, im Januar kamen wie immer die Prüfungen, und dann begann das neue Semester. Die Zeit verging mit Büffeln und Seminaren. Dann wurde es Frühling, und die blauen Leberblümchen blühten im Park vor der Unibibliothek. Nirgendwo in Schweden ist der Frühling so schön wie in Lund.«
Louise hoffte, dass ihr Handy nicht ausgerechnet jetzt klingelte, um auch weiterhin zuhören zu können, ohne unterbrochen zu werden.
»Dann fand im Verbindungshaus der Kalmarer Nation ein bescheideneres Frühlingsfest statt. Da sah ich sie wieder und drängelte mich zu ihr durch, um in ihrer Nähe zu sein, wenn sich alle ihre Plätze suchten. Jetzt war sie in der Stadt nicht mehr neu, wirkte aber trotzdem noch unsicher, das war ihren Gesten anzumerken. Sie würde mich nicht sofort zurückweisen, da war ich mir sicher. Vielleicht warf sie mir ja auch den einen oder anderen verstohlenen, aufmunternden Blick zu.«
Plötzlich verstummte er und starrte ins Leere. Louise wagte kaum, Luft zu holen.
»Was ist?«, fragte sie.
»Es kam mir in den Sinn, dass Charlotte gelacht hätte, wenn sie mich jetzt gehört hätte«, sagte er müde. »Wir haben uns später nur selten über diese Zeit unterhalten. Das kommt dann so. Alles verschwindet, weil man mit der Gegenwart so viel zu tun hat. Oder man liest Zeitung oder sieht fern, statt sich miteinander zu unterhalten, und die Jahre gehen ins Land.«
»Aber wie ging es dann weiter?«, wollte Louise wissen.
»Wie es weiterging? Ich erinnere mich, dass ich mein Jackett auszog. Ich schämte mich ein wenig, weil mein Hemd nicht gebügelt war. Das waren meine Hemden damals nie.
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