Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
Monaten hatte er in einer Ausgrabungsstätte im antiken Jerusalem
gearbeitet, in Golgatha, doch dann hatte Seine Heiligkeit Johannes Paul
I. ihn unerwartet nach Rom gerufen. In den Tiefen der Vatikanischen
Grotten hatte man hinter einer brüchigen Wand ein bis dato unbekanntes
und völlig untypisches Tunnelsystem entdeckt, ein Labyrinth, das nicht
einmal auf den Grundrisskarten von Antonio Bosio verzeichnet war, dem
Kolumbus der römischen Katakomben aus dem frühen siebzehnten
Jahrhundert.
»Kann ich Ihnen helfen?« Sebastiano hatte sich in dem engen Schacht
ein paar Zentimeter näher herangeschafft. Sein Gesicht war über und
über mit Staub beschmiert.
»Nein, dafür ist zu wenig Platz«, erklärte Kleier. »Die Bürste, bitte.«
Der Assistent reichte ihm die Bürste, die eher ein stabiler Handfeger war, und versuchte einen Blick über die Schulter des Doktors auf die Stelle zu erhaschen, die diesen so sehr faszinierte. Selbst Sebastiano schien zu
spüren, dass hier, tief unter den Fundamenten des Petersdoms, etwas
Einzigartiges auf seine Entdeckung wartete.
Vorsichtig strich der Wissenschaftler mit der Bürste über den restlichen Staub in den Rillen der Verzierung und erkannte nach und nach auf dem
Stein das Symbol eines Wappens – eines päpstlichen Wappens! Wobei
ein Teil davon tatsächlich der Griff war.
Dann erkannte Kleier, was er da vor sich hatte. Es war das Emblem von
Papst Pius XII., jenes Kirchenoberhaupts, das während des Holocausts
als höchste moralische Autorität der katholischen Kirche eisern
geschwiegen hatte.
Sebastiano reckte den Kopf und kam noch ein paar Zentimeter näher.
Kleier umfasste den Griff und versuchte die steinerne Falltür
aufzuziehen. Es gelang verblüffend mühelos, anscheinend von einer
unsichtbaren Mechanik unterstützt. Doch nun stand ihm die rechteckige
steinerne Falltür in dem kleinen Raum im Wege, und er konnte nicht in
die Öffnung hineinsehen. Er spähte über die offene Falltür. Sebastiano
ebenso, wobei der Assistent den Archäologen so unglücklich anrempelte,
dass der Stein nach vorne stürzte, die Öffnung und einen Teil des festen Bodens durchschlug und mit lautem Gepolter in ungeahnte Tiefen fiel.
In der einen Sekunde stellte Kleier sich vor, wie er die Hände um
Sebastianos Hals legte und langsam zudrückte, in der nächsten lagen sie
beide wie erstarrt der Länge nach auf dem Boden und warteten, bis das
Getöse verstummte. Jetzt konnten sie nur noch beten. Der Hohlraum
unter ihren Füßen schien immens zu sein, und der Boden unter ihren
Leibern konnte nachgeben, sofern sie ihr Körpergewicht nicht
gleichmäßig darauf verteilten.
Der Wissenschaftler bat um den größeren Scheinwerfer, robbte bis zur
Öffnung, beugte sich vornüber und hielt den Strahler in die bodenlose
Finsternis.
»Gütiger Gott!«
Die steinerne Falltür war eine breite geländerlose Treppe
hinuntergestürzt und zerbrochen am Ende der steil hinablaufenden
Stufen liegen geblieben. Nach der Größe der Treppe zu schließen,
musste der Raum, der unter ihm und Sebastiano lag, riesig sein.
Kleier gab seinem Assistenten ein Zeichen, sich nicht von der Stelle zu
rühren, dann kroch er noch ein Stück weiter vor. Ja, er rutschte sogar ein Stück weit die mit Schutt bedeckte Treppe hinunter, während Sebastiano
oben, flach auf dem Boden liegend, Wache hielt, falls etwas passierte. Er ließ den Lichtkegel so lange kreisen, bis dieser auf eine Wand traf. Dann begann er mit Hilfe des Lichtstrahls den großen Raum entlang der Wand
zu erkunden, während er langsam und vorsichtig die geländerlose Treppe
hinunterstieg. Er schrak zurück, hätte fast laut aufgeschrien, als er
glaubte, mit seinem Scheinwerfer auf ein Monster gestoßen zu sein.
Nein, er hatte solch eine Malerei noch nie zuvor gesehen. Diese
Bildnisse hatten nichts Menschliches. Sie waren einfach zu perfekt, um
menschlich zu sein. Irgendwie erinnerte ihn der von dem Lichtstrahl
erhellte Auszug an eine altjüdische Schrift außerhalb der Bibel, genauer an die Passage mit Michael, dem großen Engelsfürsten, der in Israel auf
dem Karmelberg dem Propheten Elias das Ende aller Zeitalter offenbart.
Der Lichtkegel wanderte weiter, immer noch dieselbe Wand entlang, und
Kleier sah, wie in der Wandmalerei Feuer und Schwefel vom Himmel
auf die Gottlosen strömten. Das Wehklagen in der ewigen Unterwelt. Es
war ein entsetzlicher Anblick. Dennoch ließ er das Licht des Strahlers
weiterwandern,
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