Lux Domini - Thomas, A: Lux Domini
unverzüglich einen vatikanischen
Ermittler in eine entlegene Abtei wie Rottach entsandte?
»Es tut mir leid, dass wir Ihnen für Ihre Anreise kein besseres Wetter
bieten können«, erklärte der Abt. »Noch gestern hatten wir den
schönsten Sonnenschein.«
Ben machte eine verständnisvolle Geste. »Was wäre der schönste
Sonnenschein ohne diesen Kontrast!« In Wahrheit mochte er lieber nicht
an die Rückfahrt denken.
Dominikus nickte gnädig, dann sagte er ernst: »Wir haben alles für Sie
vorbereitet. Der Leichnam ist in der Sakristei aufgebahrt.«
»Danke, Ehrwürden. Wie ich hörte, wurde der Totenschein bereits
ausgestellt?«
Der Abt räusperte sich. »Der Arzt war gestern Abend hier und hat ihn
untersucht.«
»Und wie lautet die Diagnose?«
»Sturz mit Todesfolge«, erklärte Dominikus schlicht.
Sie betraten den vor Wind und Wetter geschützten Kreuzgang, der an die
Abteikirche grenzte, und Ben war von der schlichten Atmosphäre des
Gewölbes und der Säulen beeindruckt. Er folgte Dominikus schweigend
und versuchte etwas von der Ruhe, die der Kreuzgang ausstrahlte, in sich aufzunehmen.
»Wir sind da«, sagte der Abt, öffnete eine schwere Tür und schaltete das Licht ein.
Ben trat mit den beiden Mönchen an die Bahre. Ein weißes Laken
bedeckte den Toten. Wie klein und unscheinbar Darius darunter wirkte.
Keine Schmutz- oder Blutspuren waren auf dem Laken zu sehen.
Natürlich, sie hatten den Körper gerichtet und gereinigt – und damit
vermutlich jede Spur verwischt, die ihm hätte dienlich sein können.
Ben war sich nicht sicher, womit er zu rechnen hatte. Noch nie zuvor in
seinem Leben hatte er einen zerschmetterten Körper gesehen. Er schlug
das Laken zurück und fürchtete, all seine Kraft mobilisieren zu müssen,
damit er beim Anblick nicht ächzte. Doch der leblose Leib lag einfach
nur friedlich da, auf dem Rücken, mit dem Gesicht nach oben, nicht
annähernd so geschunden, wie er es sich in seiner Vorstellung ausgemalt
hatte. Die Mönche hatten erstaunlich gute Arbeit geleistet.
»Was hoffen Sie zu finden?«, fragte Dominikus.
Ben brauchte einige Sekunden, um auf die Frage zu reagieren. »Das
weiß ich noch nicht genau.« Er drehte sich zu dem Abt um. »Was ist mit
seiner Kleidung?«
»Die haben wir verbrannt.«
Ben unterdrückte ein Seufzen und sagte: »Würden Sie mich jetzt bitte
mit dem Toten alleine lassen?«
Dominikus wirkte enttäuscht, doch er nickte, gab seinem Mitbruder ein
Zeichen und zog sich zurück.
Als Ben die Tür zugehen hörte, wandte er sich dem toten Körper wieder
zu. Beim zweiten Hinschauen wirkte der Tote nicht mehr ganz so
friedlich wie beim ersten Mal. Vorsichtig und indem er all seine
persönlichen Emotionen und Gedanken unter Kontrolle hielt, begann er
mit der Untersuchung.
Der Hinterkopf war beim Aufprall zertrümmert worden, aber das
wettergegerbte Gesicht war, von zwei Platzwunden abgesehen, noch
erstaunlich intakt. Arme und Beine sahen aus wie das hölzerne
Stückwerk einer äußerst beweglichen Marionette.
»Sie werden am Leichnam höchstwahrscheinlich keinerlei verwertbare
Spuren mehr finden«, hatte sein Vorgesetzter Kardinal Ciban prophezeit,
als er Ben über das Ableben seines Mentors in Kenntnis gesetzt, ihn von
einem anderen Fall abgezogen und beauftragt hatte, nach Rottach zu
reisen. »Dennoch muss ich sichergehen, ob es sich bei Pater Darius’
Ableben um einen Unfall handelt – oder um Mord.«
Mord? Ben hatte seinen Ohren nicht getraut. Wer hätte Darius ermorden
sollen? Und warum? Der Pater hatte ganz sicher keine Feinde gehabt, die
ihm nach dem Leben getrachtet hätten. Und wenn doch … Irgendetwas
stimmte hier nicht.
»Gibt es sonst noch etwas, das mir bei meinen Ermittlungen helfen
könnte, Eminenz?«, hatte er gefragt.
Ciban hatte von seinem Schreibtisch aufgeblickt und weder genickt noch
den Kopf geschüttelt. Bens Vorgesetzter war ein großer und überaus
schlanker Mann mit eisgrauen Augen und kurzem silbergrauem Haar.
Die klassisch geschnittenen Gesichtszüge mit der hohen Stirn und der
scharfen Nase erinnerten Ben, selbst in Verbindung mit der
Kardinalsrobe, weit mehr an das Bild eines antiken Feldherren als an
jenes eines zeitgenössischen Kirchenfürsten. In jedem Wort, jeder Geste
des Kardinals schwang stets etwas Bedrohliches mit. Ben hatte Jahre
gebraucht, um zu lernen, mit dieser unheilvollen Ausstrahlung
umzugehen.
»Im Augenblick nicht. Seien Sie vorsichtig, Ben.«
»Dann
Weitere Kostenlose Bücher