Luzifers Hammer
keinen Boden hat. Ich werde in tiefe Wasser geraten, und die Flut wird mich verschlingen.«
Doch nein, dachte der Bärtige, die Fortsetzung wäre unpassend. Und er begann von neuem. »Der Herr ist mein Hirte, mir wird nicht mangeln.«
Das Wasser rauschte heran, der Psalm war zu Ende. Eine der Frauen erhob sich. »Laßt uns beten«, sagte der Bärtige.
Das Dröhnen, das von der See herüberkam, löschte die übrigen Worte aus, und ein Regenschauer ging über sie nieder, ein warmer Regen, der das Meer und die Wellen verdeckte. Dann war es plötzlich da, ein gewaltiger Wasserwall, höher als die höchsten Gebäude, ein rauschender Moloch, sein Fuß von grünem und weißem Gischt umspült, der sich hob wie ein grüner Vorhang. Der Bärtige sah einen kleinen Gegenstand, der über die Wasserfläche schoß. Dann schwappten die Wassermassen über ihn und sein Gefolge hinweg und jagten brüllend landeinwärts.
Gil lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Brett und sein Gehirn arbeitete träge, während er mit den anderen auf die große Welle wartete. Wasser plätscherte unter seinen Bauch, die Sonne brannte auf seinen Rücken. Zu beiden Seiten schaukelten weitere Surfbretter auf der Dünung.
Jeanine erfaßte seinen Blick und schenkte ihm ein müdes Lächeln voller Verheißung und Erinnerung. Ihr Mann würde weitere drei Tage wegbleiben. Gils Lächeln, mit dem er das ihre erwiderte, war ausdruckslos. Er wartete auf eine Welle. Hier im Muscle Beach von Santa Monica waren die Wellen nicht besonders hoch, dafür lag Jeanines Wohnung in der Nähe, und es würden noch bessere Tage kommen mit besserem Wellengang.
Die Häuser und Apartments oben am Steilhang wogten auf und nieder. Sie waren hell und neu, nicht wie die Häuser bei Malibu Beach, wo die Gebäude stets älter aussahen als sie waren.
Doch selbst hier wiesen die Häuser Alterserscheinungen auf.
Die Entropie breitete sich schnell aus an der Grenze zwischen Land und Meer. Gil war jung wie all die jungen Männer, die an diesem schönen Morgen auf dem Wasser schaukelten. Er war siebzehn, braungebrannt, sein langes Haar war fast weiß gebleicht, seine Bauchmuskeln waren fest wie die Panzerglieder eines Armadillio , und er war froh darüber, daß er älter aussah als er war. Er brauchte für sein Essen, Trinken und Wohnen nichts mehr zu bezahlen, seitdem ihn sein Vater rausgeworfen hatte. Es gab stets reifere Damen, die bereitwillig für sein leibliches Wohl sorgten. Und ihm machte es Spaß, mit seiner jungen Männlichkeit zu protzen und ihre Bewunderung einzuheimsen. Diese Verzückung, wenn sie seine harte Rute spürten …
Wenn er an Jeanines Mann dachte, so waren es stets freundliche und erheiternde Gedanken. Für den Mann bedeutete er keine Gefahr. Er wollte nichts Festes. Sie konnte schließlich mit jedem fertig werden, der ihr Geld auf die Dauer beanspruchen wollte …
Er blinzelte ins Licht. Das Licht flackerte, und er schloß die Augen. Das war ein Reflex. Wellenreflexe waren hier draußen nichts Ungewöhnliches. Vor seinen geschlossenen Augen erlosch die Flamme, und er schaute aufs Meer hinaus. War da etwa eine Welle im Anrollen?
Gil sah eine Feuerwolke am Horizont aufsteigen. Er starrte sie aufmerksam an, blinzelte und wollte sich einreden …
»Große Welle im Anrollen!« rief er und erhob sich auf die Knie.
»Wo?« rief Corey.
»Du wirst gleich sehen«, rief Gil zuversichtlich. Er wendete sein Brett und paddelte los, mit weit ausholenden Bewegungen seiner langen Arme, während er sich weit vorbeugte, bis sein Kinn das Brett berührte. Er war mächtig erschrocken, aber das durfte keiner wissen.
»Warte auf mich!« rief Jeanine.
Gil paddelte weiter. Andere folgten ihm, aber nur die kräftigen konnten mithalten. Corey holte ihn ein.
»Ich habe den Feuerball gesehen«, schrie er. Er atmete schwer. »Es ist Luzifers Hammer! Eine Flutwelle!«
Gil sagte nichts. Das Reden hatte hier draußen wenig Sinn, doch die anderen schwatzten miteinander; Gill aber ruderte noch schneller und ließ alle hinter sich. Ein Mann mußte allein sein, wenn so was passierte, sagte er sich. Vor seinen Augen tauchte der Tod aus den Fluten.
Es begann zu regnen, und Gil paddelte weiter. Er blickte zurück und sah, wie die Häuser und die Steilküste zurückwichen und auf und ab schwankten, während sich eine neue Bucht auftat, die feucht erglänzte. Blitze flammten über den Bergen oberhalb Malibu.
Die Berge hatten sich verändert. Die Häuserzeilen von Santa Monica waren ein
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