Lycana
wir es nicht wirklich gebraucht. Der Boden war eben und führte nur geradeaus. Außerdem kann es nur funktionieren, wenn sich zumindest eine Fledermaus im Umkreis auf hält.«
»Wie weit darf sie von uns entfernt sein?«, erkundigte sich Franz Leopold.
»Das hängt von deinen Fähigkeiten ab. Je stärker du sie entwickelt hast, desto größer kann die Entfernung sein, über die es dir noch gelingt, das Tier herbeizurufen.«
»Dann können wir sie auch vorausfliegen und um Ecken spähen lassen? Sie nach Fallen suchen lassen?« Ivy nickte. Luciano war begeistert. Sie hob die Hände, um seine Freude ein wenig zu dämpfen.
»Vieles ist möglich, und manche der Lycana sind so mächtig, diese Kräfte zu beherrschen, doch es ist nicht leicht und erfordert viel Disziplin des Geistes und viel Übung. Ein Tier herbeizurufen ist der weitaus leichteste Teil.«
Lucianos Begeisterung verflog.
»Tja, mein Dickerchen, zu früh gefreut«, sagte Franz Leopold schadenfroh. »Ich fürchte, du wirst diese und noch alle weiteren Nächte, die wir in dem Höhlenlabyrinth verbringen, des Öfteren gegen Vorsprünge und Tropfsteine laufen, wenn du dich nicht ganz langsam und vorsichtig bewegst.«
»Nein, das wird er nicht«, widersprach Ivy mit fester Stimme. »Luciano wird es lernen, so wie ihr anderen auch. Und ich bitte dich, ihn nicht wieder so anzusprechen. Es ist nicht freundlich und trifft auch nicht zu. Ist dir nicht aufgefallen, wie er sich in den vergangenen Monaten gestreckt hat?«
Franz Leopold betrachtete ihn mit gerunzelter Stirn, doch bevor er zu einer Entgegnung ansetzen konnte, winkte Donnchadh ihnen, ihm durch die Spalte zu folgen.
»Das sieht richtig bequem und gemütlich aus«, meinte Luciano, als er sich auf die Knie hinabließ und in das dunkle Loch starrte.
»Ich finde es aufregend«, erklang Alisas Stimme aus der Finsternis. »Komm weiter. Es wird bald geräumiger. Wenn ich mich anstrenge, kann ich die Umrisse der Felsen vor mir erkennen.« Doch Luciano zögerte.
»Lass mich vorgehen, dann kann ich deine Hand nehmen«, schlug Ivy vor, der noch immer die kleine Fledermaus um den Kopf schwirrte. Mervyn hatte sich gleich ein halbes Dutzend gerufen, die, wie es schien, in begeisteter Erregung um ihn herumflatterten. Bereitwillig machte Luciano Platz und ließ Ivy und Seymour den Vortritt. Dann kroch er hinter ihr her.
»Du kannst dich jetzt aufrichten«, hörte er ihre Stimme dicht an seinem Ohr. Dann schoben sich ihre Finger in seine Hand. Er zuckte zusammen, als sei er einem Blitzstrahl zu nahe gekommen. Obwohl ihre Hand kühl war, fühlte es sich für ihn wie Feuer an.
»Komm weiter, der Grund ist hier recht eben. Ich sage dir, wenn du auf deinen Schritt achten musst.« Sie war ihm so nah, dass er ihren süßen Atem roch. Es fiel ihm schwer, ruhig zu atmen. Wie gnädig die Finsternis war! Ein schrecklicher Gedanke durchzuckte ihn. Konnte sie mit ihrer Fledermaus etwa so gut sehen, dass sie in seinen Gesichtszügen las? Hoffentlich nicht!
Luciano spürte seine Gegenwart, noch ehe die säuselnde Stimme zu ihm drang. »Sie kann in dieser Finsternis vielleicht nicht in deinem Gesicht lesen, aber ganz sicher in deinen Gedanken. Dachtest du etwa, dafür bräuchte man Licht? Du bist und bleibst ein Dummerchen!«
»Und du ein widerlicher Kerl«, erklang Alisas Stimme. Franz Leopold stöhnte auf.
»Oh, war das vielleicht dein Schienbein? Das tut mir aber leid. Ich kann in der Dunkelheit nichts erkennen.«
»Kommt weiter«, forderte Ivy sie auf, ohne auf den Streit einzugehen. »Wir haben noch ein Stück vor uns, bis wir die Halle erreichen.«
Da Donnchadh und seine Begleiter schon ein ganzes Stück voraus waren, überließ Alisa Ivy die Führung.
Bald hörten sie vor sich Wasser rauschen.
»Ist das der Höhlenfluss?«, fragte Alisa aufgeregt.
»Ein Teil von ihm. Warte kurz, dann sind wir da.«
Und schon konnten sie den feuchten Sprühnebel auf der Haut spüren. Das feine Rauschen steigerte sich zu einem Tosen, das jedes andere Geräusch verschluckte.
»Ein Wasserfall!«, rief Alisa und streckte die Hände aus.
»Ja, er stürzt in das Loch dort vorne hinab. Das Wasser verschwindet in eine tiefere Ebene. Das Höhlensystem besteht aus mehreren Stockwerken. Die oberen sind die ältesten und heute trocken. Auch sie hat der Fluss einst aus dem Stein gelöst, doch irgendwann traf er auf Spalten und Löcher, durch die er tiefer sickern konnte, und begann, dort ein neues Bett zu graben. Lasst uns weitergehen,
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