Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
unschlüssig vor dem Haus gestanden hatte. Schließlich stieß sie die Tür auf, trat ein und ließ ihre Schultasche und die Handtasche ihrer Mutter auf den Boden fallen. Die Eingangstür ließ sie offen, denn die Welt vor der Tür kam ihr plötzlich viel sicherer vor als ihr Zuhause.
Drinnen brannte kein Licht. Lydia schaltete die plärrende Stereoanlage aus, und im Haus wurde es totenstill.
»Mom?«
Sie ging von Zimmer zu Zimmer, ohne jemanden anzutreffen. Dann stieg sie die Treppe hinauf. Das Schlafzimmer lag im Dunkeln, die Jalousie war nachlässig heruntergelassen und hing schief über dem Fensterbrett. Das sah Marion nicht ähnlich. Lydia schaltete das Licht ein und entdeckte ihre Mutter – ein Anblick, den sie nicht vergessen konnte. Lydia stürzte sich auf sie, schrie sie an, schüttelte sie.
Dann wich sie zurück, betäubt und blutverschmiert. Sie begriff nicht, was geschehen war, rannte kopflos und in Todesangst zu den Nachbarn hinüber und trommelte verzweifelt gegen die Tür. Sie wollte nicht einsehen, dass niemand zu Hause war. Ihre Gedanken rasten, während sie vergeblich versuchte, aus dem Albtraum aufzuwachen. Schließlich hörte der Nachbar von gegenüber ihre Schreie und verständigte die Polizei, die Minuten später eintraf. Lydia war kraftlos auf der Veranda zusammengesackt. Sie stand unter Schock.
Sie wusste noch, dass sie sich geweigert hatte, die Veranda zu verlassen. Eine Polizistin hatte sich neben sie gesetzt und versucht, sie dazu zu bewegen, ins Haus zu gehen und sich aufzuwärmen. Aber Lydia wollte sich nicht von der Schwelle rühren; sie musste verhindern, dass ihre Großeltern, die sich in Brooklyn auf den Weg gemacht hatten, das Haus betraten und das Grauen sahen. In eine Decke gehüllt blieb sie zitternd sitzen, während sie fieberhaft nach einer Möglichkeit suchte, die Katastrophe ungeschehen zu machen.
Dort auf der Schwelle erblickte sie Jeffrey zum ersten Mal. Er stieg mit einem anderen Mann aus einer schwarzen Limousine und kam auf sie zu, ohne sie aus den Augen zu lassen. Er sah stark und mutig aus, wie jemand, der ihre Mutter hätte retten können. Er kniete sich vor sie hin und bat die Polizistin, ihn mit Lydia allein zu lassen.
»Hi, Lydia«, sagte er leise, »ich bin Agent Mark. Ich weiß, wie schockiert und traurig du jetzt bist, aber vielleicht kannst du mir trotzdem helfen, den Mann zu finden, der deiner Mutter das angetan hat.«
Er legte ihr eine Hand auf die Schulter, ganz zart, und Lydia nickte und fing zu weinen an. Er nahm ihre Hand, half ihr auf und führte sie ins Haus.
Vor der Kirche machte Lydia Halt, um sich zu dehnen. Sie wischte sich mit dem T-Shirt den Schweiß von der Stirn. Die Kirche schien sie zu erwarten. Immer wenn der Todestag ihrer Mutter heranrückte, verfiel sie in diese Ruhelosigkeit. Warum denkst du ausgerechnet jetzt daran? Warum ist der Schmerz so heftig?
In ihrem Kopf wirbelten Erinnerungen und Gedanken durcheinander, so dass sie ihre eigene Stimme kaum noch aus der Kakophonie heraushörte. Einmal hatte ein Meditationslehrer zu ihr gesagt: »Dein Verstand ist wie ein Zimmer voller Affen. Sobald du den einen beruhigt hast, fängt ein anderer zu kreischen an. Du musst atmen, um deine Affen zu besänftigen. Du musst deinen inneren Frieden finden.« Lydia hatte sich beim Meditieren ebenso widerspenstig gezeigt wie in der Therapie. Nun ging sie vor der Kirche im Kreis herum, die Hände in die Seiten gestemmt, um zu Atem zu kommen.
Insgeheim wusste sie, dass sie die ganze Zeit mit Juno hatte sprechen wollen. Glaubst du wirklich, er könnte dir helfen?
Sie stieg die Treppe hinauf, öffnete die schwere Holztür und platzte mitten in die Andacht hinein. Der Priester stand an der Kanzel, vor ihm ein Dutzend Gläubige. Lydia schlich hinein in der Hoffnung, dass niemand sie bemerkte. Ohne nachzudenken, tauchte sie ihre Finger ins Taufbecken am Eingang und bekreuzigte sich.
Vorsichtig fischte sie drei Vierteldollarmünzen aus ihrem BH, legte sie in die bereitgestellte Dose und zündete drei Votivkerzen an.
»Lasst uns beten«, sagte der Priester.
Die Stille war erdrückend. Lydia schlich in die letzte Bank und kniete sich hin. Wofür beteten sie? Was würde sie sich wünschen, sollte sie auf einer einsamen Insel eine Öllampe mit einem Flaschengeist finden? Eine Zigarette?
Als sie die Augen wieder öffnete und sich hinsetzte, entdeckte sie Juno neben dem Altar. Er griff zur Gitarre, und Musik erfüllte das Kirchenschiff. Seine Finger flogen
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