Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
weil Jeffrey allein mit Chief Morrow sprechen wollte. Auf der Verstandesebene konnte sie nachvollziehen, dass Jeffrey ungestört mit ihm sprach. Auch er hatte eine Vorgeschichte mit Morrow, aber im Gegensatz zu ihr hatte er keinen nationalen Skandal ausgelöst, indem er Morrow in einem Artikel in der Vanity Fair als inkompetenten, frauenfeindlichen Alkoholiker bloßgestellt hatte. Jeffreys Alleingang war ihre einzige Chance, etwas aus Morrow herauszubekommen. Lydia würde er vermutlich nicht einmal in sein Büro lassen. Allerdings hatte sie Jeffrey um Unterstützung gebeten – nicht darum, den Fall an sich zu reißen. Manchmal hatte sie das Gefühl, er war Superman und sie nur Lois Lane. Er sprang von Hochhäusern und fing Gewehrkugeln ab, während sie bloß zuschaute und am Ende alles aufschrieb. Sie wusste, wie irrational das war, aber trotzdem machte es sie wütend. Außerdem verwirrte seine Nähe sie. Seit seiner Verwundung hatten sie nicht mehr unter einem Dach geschlafen. Es fühlte sich so gut an, es war so beruhigend, ihn im Haus zu wissen. Die gefürchtete Rastlosigkeit war verschwunden. Lydia hatte, was sie brauchte, das Original. Es hatte keinen Sinn, sich im Eldorado nach billigem Ersatz umzusehen.
Die Kirche tauchte am Ende der Straße auf. Es war zu spät umzukehren oder eine andere Route zu wählen. Die Kirche und Juno zogen sie magisch an.
Sicher würde es Ihre Mutter glücklich machen, dass Sie zu Gott zurückgefunden haben.
Als ihre Mutter ermordet wurde, hatte Lydia gespürt, dass etwas nicht stimmte. Der Schuldirektor hatte sie an jenem Tag mit einer Zigarette erwischt und zum Nachsitzen verdonnert. Außerdem hatte er Lydias Mutter bei der Arbeit angerufen, um sie über den Regelverstoß der Tochter zu informieren. Zu guter Letzt hatte Lydia auch noch den Schulbus verpasst und musste die zwei Kilometer nach Hause zu Fuß zurücklegen.
Es war der 5. September, ein kühler, klarer Herbsttag. Die Blätter verfärbten sich, die Luft roch nach frisch gemähtem Rasen. Lydia sah die Szene deutlich vor sich: Ihre Mutter würde sie am Küchentisch erwarten und ruhig fragen: »Wie war dein Tag?« Und: »Hast du mir etwas zu sagen?« Dann würde sie ihr einen quälend langen Vortrag halten, der mindestens eine Stunde, vielleicht sogar den ganzen Abend dauerte, je nachdem, wie wütend ihre Mutter war und wie viel Energie sie noch hatte. Danach würde Marion sich kühl geben und nur das Nötigste mit ihrer Tochter reden: »Bitte spül das Geschirr ab«, oder: »Bitte geh vor zehn ins Bett«.
Es wäre besser gewesen, wenn ihre Mutter laut geschimpft hätte. Dann hätte Lydia sie wenigstens anschreien können. So schmorte sie in ihrem eigenen Saft und war gezwungen, zu bereuen, sich zu schämen und auf Vergebung zu warten.
Lydia würde nie vergessen, was sie an jenem Tag getragen hatte: einen rotkarierten Faltenrock, eine weiße Strumpfhose und Halbschuhe, dazu eine weiße Bluse und eine schwarze Wildlederweste. Ihr Lieblingsoutfit.
Noch vor dem Haus spürte sie ein Unbehagen. Sie blieb in der Einfahrt stehen und starrte das Auto ihrer Mutter an. Die Fahrertür stand offen. Als Lydia sich dem blauen Chevy näherte, entdeckte sie Marions Handtasche auf dem Beifahrersitz. Im Haus lief laute Musik.
Lydias Mutter war eine konservative Frau mit festen Gewohnheiten. Sie legte größten Wert auf Ordnung und handelte nie spontan. Selbst wenn im Haus das Telefon geklingelt hätte, hätte sie das Auto niemals mit offener Tür und Handtasche auf dem Sitz zurückgelassen. Sie lebten in einer sicheren Kleinstadt, aber Marion war in Brooklyn aufgewachsen. Sie hatte Lydia vermittelt, dass die Welt voller Gefahren war. Niemals hätte sie über Nacht ein Fenster offen stehen lassen. Wenn Lydia am Nachmittag von der Schule nach Hause kam, hatte sie die Anweisung, hinter sich abzuschließen und niemanden ins Haus zu lassen, höchstens die Nachbarn oder die Polizei. In diesem Punkt war ihre Mutter sehr streng.
Lydia nahm die Handtasche vom Beifahrersitz und schloss die Autotür. Sie ging zur Haustür und stellte fest, dass sie offen stand.
Was hatte ihre Mutter gesagt? »Falls du jemals nach Hause kommst und die Tür offen steht oder ein Fenster eingeschlagen ist, darfst du auf keinen Fall hineingehen. Lauf zu einem Nachbarn, verständige die Polizei und ruf mich bei der Arbeit an.«
»Ja, Mom, mach ich, keine Sorge. Meine Güte …«
»Mom?«, rief sie von der Schwelle aus, »Mom?«
Sie wusste nicht, wie lange sie
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