Lydia Strong 01 - Im Herzen die Sünde
über das Griffbrett, jede Note war perfekt. Der Mann faszinierte Lydia, nicht die Musik. Sie musste herausfinden, ob die Gerüchte über ihn stimmten.
Sie beobachtete ihn genau und wäre gern näher an ihn herangerückt, wollte aber kein Aufsehen erregen und blieb deswegen in der letzten Bank sitzen. Er bewegte sich nicht wie die anderen Blinden, die Lydia bisher gesehen hatte. Sie hatte immer geglaubt, man könne einem Menschen seine Blindheit ansehen wie eine körperliche Deformation: eingefallene Augen, eine vorgewölbte Stirn, pupillenlose Augen. Aber Juno sah aus, als hätte er sein Sehvermögen durch eine grausame Laune des Schicksals verloren. Er wirkte still und verzückt, bewegt von der Musik, die er Gott darbrachte. Lydia starrte Juno schamlos an. Nachdem die Musik verklungen war, sprach der Priester seinen Segen, die Gläubigen erhoben sich und gingen hinaus. Sie sahen Lydia neugierig an, vielleicht weil sie so unpassend gekleidet war. Der Priester wechselte ein paar Worte mit Juno und verschwand im hinteren Teil der Kirche. Juno blieb sitzen und verstaute seine Gitarre in dem Koffer.
Lydia näherte sich ihm absichtlich geräuschvoll und räusperte sich lautstark.
Er hob den Kopf.
»Hallo?«
»Ich bin es, Lydia«, sagte sie.
Er lächelte.
»Lydia, was führt Sie her?«
»Meine Neugier«, antwortete sie.
»Warum?«
»Weil Sie letztes Mal etwas zu mir gesagt haben.« Sie sprach leise, als fühle sie sich durch die Umgebung, durch Junos sanfte Art dazu verpflichtet.
»Ich habe viel gesagt.«
»Sie wissen, was ich meine. Sie sagten, meine Mutter sei sicher glücklich, dass ich zu Gott zurückgefunden habe.«
»Aber das stimmt doch, oder?«
»Ja, das stimmt. Aber woher wussten Sie das? Was wissen Sie über mich? Über meine Mutter?«
»Setzen Sie sich. Sie klingen aufgebracht.«
Lydia wollte lieber stehen, setzte sich jedoch.
»Erklären Sie mir einfach, wie Sie das gemeint haben.«
»Lydia, Sie haben während Ihrer Radiosendungen offen über den Tod Ihrer Mutter gesprochen, und dass er Sie bis heute beschäftigt. Als Sie zum ersten Mal zu mir kamen, spürte ich deutlich, wie sehr Sie an sie denken und wie viel diese Kirche damit zu tun hat. Ich wollte Ihnen nur helfen. Ich wollte Ihren Schmerz nicht vergrößern.«
Lydia überlegte, was sie in den Sendungen gesagt hatte. Hatte sie erzählt, dass sie im Gegensatz zu ihrer Mutter nicht gläubig war? Falls ja, hätte jeder Idiot seine Schlüsse daraus ziehen können. Aber Lydia konnte sich nicht mehr erinnern.
Juno legte den Kopf schief und zog fragend die Augenbrauen hoch.
Was willst du hier?, fragte sie sich nicht zum ersten Mal.
»Ich habe von Ihnen geträumt«, beichtete sie ihm und schilderte ihm ihren Traum.
»Viele Leute sagen, sie hätten mich und einen geliebten Menschen im selben Traum gesehen. Manche behaupten, ich hätte ihnen geholfen, mit der anderen Seite zu kommunizieren. Ich kann mir das nicht erklären. Aber vielleicht will Ihre Mutter Ihnen etwas sagen?«
Diese vage und zugleich gewagte Mutmaßung verärgerte Lydia.
»Was möchte sie mir denn sagen, Juno? Und was haben Sie damit zu tun?« Sie klang ungewollt kampflustig.
»Vielleicht rät sie Ihnen, die Vergangenheit loszulassen«, sagte Juno seelenruhig, ohne auf ihren aggressiven Tonfall einzugehen.
»Das tue ich bereits.«
»Vor der Vergangenheit davonzulaufen ist etwas völlig anderes, als sie loszulassen.«
Seine Worte klangen ernst, und Lydia war gerührt, denn sie spürte, dass er ihr wirklich helfen wollte. Doch obwohl er sie nicht manipulieren wollte, fühlte sie sich bedrängt. Schon rückte sie von ihm ab, machte innerlich dicht, um sich zu schützen. Auf diesen »Seher« reagierte sie nicht anders als auf ihre zahllosen Therapeuten. Kein Wunder.
Und was möchten Ihre toten Eltern Ihnen sagen, Sie selbstgefälliger Arsch? Die Worte waren wie vergiftete Pfeile, bereit, abgefeuert zu werden. Aber Lydia biss sich auf die Zunge. Sie wollte nicht boshaft sein, wollte niemanden verletzen.
»Sie kennen mich gar nicht«, entgegnete sie matt.
»Das stimmt … gewissermaßen. Aber warum sind Sie dann hier?«, fragte er unbeirrt.
»Ich weiß es nicht. Es tut mir leid.« Sie wusste es wirklich nicht. Sie hatte sich doch vorgenommen, die Kirche zu meiden. Dabei hatte sie sogar Geld für die Kerzen dabeigehabt. Welche Macht trieb sie immer wieder hierher?
Sie stand auf.
»Es tut mir leid«, wiederholte sie.
»Lydia, Sie brauchen sich für nichts zu
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