LYING GAME Und raus bist du
»der Junge, der Dixiklo schrie« geworden. Glaubten die Polizisten wirklich, Sutton sei das Mädchen, das »Baby im Müllcontainer« schrie?
Emma wühlte in Suttons Tasche, bis sie ihr pinkfarbenes iPhone fand. Mit zitternden Fingern rief sie die Videoseite auf, die Travis ihr gezeigt hatte. »Hier gibt es ein Video, auf dem jemand Sutton würgt. Vielleicht wissen Sie ja, wo das ist.«
Endlich war die Homepage der Seite fertig geladen. Emma tippte SuttonInAZ ins Suchfenster. Einen Augenblick später erschien ein neues Fenster: Keine Einträge gefunden. »Was?«, quiekte Emma. Sie starrte die Cops flehend an. »Das muss ein Fehler sein! Das Video war vor zwei Tagen noch hier, das schwöre ich!«
Quinlan grunzte. Bevor Emma kapierte, was er vorhatte, riss er ihr die beige Tasche von der Schulter. Er zog Suttons blaues Portemonaie heraus, löste den Verschluss und enthüllte den Führerschein in dem Klarsichtfenster neben dem Kleingeldfach. Arizona stand in blauen Buchstaben über dem Foto. Sutton hatte der Kamera zugelächelt. Ihr Make-up war perfekt und ihr Haar makellos. Emma dachte flüchtig an ihr eigenes Führerscheinfoto, das in einer schlecht ausgeleuchteten Kraftfahrzeugbehörde ohne Klimaanlage aufgenommen worden war, und zwar am Tag nach der Notoperation, bei der Emma sich zwei Weisheitszähne hatte entfernen lassen müssen. Ihr Haar klebte an ihrer Stirn, ihr Make-up lief ihr übers Gesicht und ihre Backen waren so dick wie die eines Streifenhörnchens. Sie sah aus wie ein verschwitzter Shrek.
Quinlan wedelte mit der Geldbörse vor Emmas Gesicht herum. »Hier steht, du bist Sutton Mercer. Hier steht nichts von einem Mädchen namens Emma.«
»Das ist nicht meiner«, sagte Emma schwach. Sie fühlte sich wie der Vogel, der sich vor ein paar Wochen in Clarice’ Garage verirrt hatte – panisch und hilflos. Wie konnte sie den Leuten hier beweisen, dass sie nicht Sutton war … wenn sie ihr glich wie ein Ei dem anderen. Emma wurde schlagartig etwas klar. Der Mörder hatte beobachtet, wie sie auf Sutton wartete. Vielleicht hatte er sie auch hierher gelockt. Wie lange war Sutton schon tot? Ohne Leiche gab es schließlich kein Verbrechen.
Sie deutete auf den Brief. »Können Sie den nicht wenigstens auf Fingerabdrücke prüfen?«
Quinlan trat einen Schritt zurück, verschränkte die Arme vor der Brust und sah sie an, als habe sie den Verstand verloren. »Ich hätte eigentlich gedacht, ein Mädchen, dessen Auto beschlagnahmt wurde, macht sicher eine Weile keinen Ärger mehr. Wir können das Bußgeld übrigens auch erhöhen.«
»Aber …« Emma verstummte hilflos. Sie hatte keine Ahnung, was sie darauf antworten sollte. Das Telefon des blonden Polizisten klingelte, und er ging eilig dran. Ein Polizist mit einem braunen Cowboyhut stürmte durch die Eingangstür und marschierte in ein Verhörzimmer.
»Hier.« Mit angeekeltem Blick warf Quinlan den Brief und Suttons Geldbeutel Emma in den Schoß. Dann beugte er sich vor und schaute Emma drohend an. »Ich bringe dich jetzt zur Schule. Und wenn ich dich noch einmal hier drin erwische, dann sperre ich dich über Nacht ein. Mal sehen, wie dir das gefallen wird. Kapiert?«
Emma nickte.
Quinlan führte sie über den Parkplatz. Zu Emmas Entsetzen schloss er die hintere Türe des Streifenwagens auf und deutete auf den Rücksitz. »Bitte sehr.«
Emma starrte ihn an. »Im Ernst jetzt?«
»Jawohl.«
Sie ballte die Fäuste. Unglaublich. Aber nach kurzem Zögern stieg sie doch auf die Rückbank des Streifenwagens, wo sonst die Kriminellen saßen. Es roch nach einer Mischung aus Erbrochenem und Lufterfrischer. Jemand hatte »Arschloch« auf den Kunstledersitz geschrieben.
Quinlan setzte sich hinters Steuer und drehte den Zündschlüssel. »Ich fahre kurz in die Hollier«, sagte er in das Funkgerät, das an der Mittelkonsole befestigt war. »Bin gleich zurück.« Emma ließ sich in den Sitz sinken. Wenigstens schaltete er die Sirene nicht ein.
Als Quinlan links aus dem Parkplatz bog, begann Emma, langsam ihre neue Realität zu begreifen. Es war leicht gewesen, auf einer Party Sutton zu spielen. Es hatte sogar Spaß gemacht. Aber sie hatte Sutton kennenlernen und nicht ihr Leben übernehmen wollen. Und obwohl sie schon immer gerne mal ein Verbrechen aufgeklärt hätte, wäre ihr nie in den Sinn gekommen, dass sie mal in eine solche Geschichte geraten würde. Aber wenn niemand ihr glaubte – zumindest Suttons Familie und die Polizei nicht, und wer blieb dann noch? –,
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