LYING GAME Und raus bist du
undeutlichen Erinnerungen hatten mich nicht getrügt. Die Dunkelheit. Das Strampeln. Das Messer an meiner Kehle. Wer auch immer mich auf dem Gewissen hatte, er oder sie wollte, dass eine Schwester, die ich noch nie gesehen hatte, meinen Platz einnahm, damit niemand die Wahrheit erfuhr. Als ob das so einfach wäre! Ich hätte gerne auch ein Wörtchen mitgeredet, schließlich wollte ich mei n Leben nicht einfach an eine andere Person übergeben.
Und Emma hatte auch gar keine Lust, es zu übernehmen. Sie schniefte laut und Laurel drehte sich zu ihr. »Was ist?« Ihre Mundwinkel senkten sich.
Emma presste die Fingerspitzen auf den Brief. Sutton ist tot. Laurel sollte den Brief eigentlich sehen dürfen, oder? Suttons Schwester musste doch erfahren, dass sie tot war. Aber Emma konnte ihr den Brief nicht zeigen. Womöglich glaubte ihr Laurel nicht und hielt das Ganze für einen weiteren Versuch, die Schule zu schwänzen? Und was war, wenn auch der zweite Teil der Botschaft stimmte? Spiel weiter mit … oder du bist als Nächste dran. Wenn Emma jemand davon erzählte, passierte vielleicht etwas Schreckliches.
»Nichts«, sagte sie schließlich.
Achselzuckend fuhr Laurel weiter durch die Straßen ihres Viertels. An einem großen Park mit einem Hundeauslauf, einem gigantischen Spielplatz und drei Tennisplätzen bog sie rechts ab. Die Straße, in die sie danach einbog, war auf einer Seite von Bio-Läden, edlen Maniküresalons und schicken Boutiquen gesäumt. Gegenüber befanden sich ein UPS -Laden, eine Polizeiwache in einem Stuckgebäude und das steinerne Eingangstor der Hollier High School. Autos blockierten die Linksabbiegespur und warteten darauf, aufs Schulgelände zu gelangen. Blonde Mädchen mit Ray-Bans fläzten sich in Cabriolets. Aus einem großen Escalade mit »Hollier-Varsity-Football«-Aufkleber am Kotflügel dröhnten laute Bässe. Ein dunkelhaariges Mädchen kurvte auf einer seegrünen Vespa zwischen den Autos hindurch, manchmal nur Zentimeter an ihnen vorbei.
Emma starrte auf die Polizeiwache, als sie in den Schul hof einbogen. Sechs Streifenwagen standen auf dem Park platz. Ein uniformierter Beamter drückte auf dem Bürgersteig vor der Wache gerade seine Zigarette aus. Laurel fuhr eine kleine Anhöhe hinauf und passierte ein Schild mit der Aufschrift: Schülerparkplatz . Sie schaute Emma aus dem Augenwinkel an. »Du musst Mom irgendwann sagen, wo dein Auto ist. Ich habe keine Lust, dich das ganze nächste Jahr durch die Gegend zu kutschieren.«
Da fiel Emma etwas ein. Sie drehte sich zu Suttons Schwester um. »Warum bist du gestern nicht einfach mit deinem Auto zu Nishas Party gefahren?«
Laurel blies die Backen auf. »Wieso wohl. Weil Dad es in die Werkstatt gebracht hat. Weil die Stoßdämpfer hinüber waren.«
Sie fuhren an den geparkten Wagen vorbei. Hier herrschte eine Stimmung wie auf einer Party vor einem Footballspiel. Kids saßen auf ihren Motorhauben und tranken Smoothies. Auf dem staubigen Platz rechts neben dem Parkplatz spielten ein paar Jungs Fußball. Drei hübsche Mädchen, die sorbet-farbene Havaiana-Zehensandalen trugen, betrachteten Urlaubsfotos auf einem Laptop, der im Heck eines Minis aufgestellt war.
Sutton ist tot, dachte Emma noch einmal. Immer wieder überwältigte sie dieses Wissen. Sie musste etwas unternehmen, eine solch monumentale Tatsache konnte sie keinen Augenblick länger für sich behalten. Egal, was in dem Brief stand. Emmas Herzschlag beschleunigte sich.
Laurel parkte neben einer großen Mülltonne, die bereits bis zum Rand mit leeren Wasserflaschen und Starbucks-Bechern gefüllt war. Sobald sie den Motor ausgeschaltet hatte, riss Emma die Tür auf und rannte über das Feld in Richtung der Polizeiwache.
»Hey!«, brüllte Laurel. »Sutton? Was zum Henker?«
Emma antwortete nicht. Sie suchte sich einen Weg durch die struppigen Pflanzen, die die Schule vom Parkplatz der Wache trennten. Dornen zerkratzten ihr die Arme, aber es fiel ihr kaum auf. Endlich erreichte sie einen schmalen Rasenstreifen und stürmte durch die Eingangstüren der Wache.
Drinnen war es kühl und dunkel. Der große, in mehrere Bereiche unterteilte Raum mit den vielen Schreibtischen roch nach Hühnchen Kung Pao und Schweiß. Telefone klingelten, Funkgeräte summten und im Hintergrund lief ein Sportsender im Radio. Die Jalousien waren staubig, und auf dem Boden neben der Tür stand eine verbeulte Fantadose voller Zigarettenkippen. An der hinteren Wand hing eine große Anschlagtafel voller
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