LYING GAME Und raus bist du
mir, Trigonometrie, hat mich komisch angeguckt und gewitzelt(?), ich sähe heute so anders aus. Hätte ich auch alles so sorgfältig untersucht, wenn unsere Rollen vertauscht gewesen wären? Hätte ich mit vollem Einsatz versucht, eine Schwester zu rächen, die ich gar nicht kannte? Mir fiel auch noch etwas anderes an Emma auf. Wie sie mit zusammengepressten Lippen durch die Flure lief, als halte sie den Atem an. Wie sie ins Mädchenklo huschte und in den Spiegel starrte, als müsse sie sich erneut Mut machen. Wir beide hatten Geheimnisse. Und wir waren beide entsetzlich allein.
Emma öffnete das Schließfach. Es war leer, bis auf ein verratztes Notizbuch am Boden und ein paar Bilder von Sutton, Madeline und Charlotte an der Innenseite der Tür. Gerade als Emma versuchte, die Bücher, die sie heute bekommen hatte, in Suttons Ledertasche zu quetschen – wie bescheuert musste man sein, um keinen Rucksack in die Schule mitzunehmen –, spürte sie eine Hand auf dem Arm.
»Überlegst du, Tennis zu schwänzen?«
Emma drehte sich um. Charlotte stand vor einem Antidrogenplakat, die roten Haare zu einem hohen Pferdeschwanz zusammengebunden. Sie trug jetzt ein weißes T - Shirt, schwarze Champion-Shorts und graue Nikes. Eine Tennistasche wie diejenige, die Suttons Mom heute Morgen für Emma gepackt hatte, baumelte von ihrer Schulter.
Tennis. Herrje. »Ich habe daran gedacht«, murmelte Emma.
»Dann überleg’s dir wieder anders.« Charlotte hakte sich bei Emma unter und zog sie den Flur entlang. »Komm schon. Laurel hat deine Sachen in die Mannschaftskabine gebracht, als du heute Morgen deinen kleinen Ausbruchs versuch gestartet hast. Maggie wird uns umbringen, wenn wir zu spät kommen.«
Als sie in Richtung Umkleide liefen, betrachtete Emma Charlotte unauffällig. Es überraschte sie, dass diese auch in der Tennismannschaft war. Vom Körperbau her wirkte sie eher wie eine Ringerin. Schuldbewusst biss sich Emma auf die Lippen. War das gemein gewesen?
Auch nicht gemeiner als ich gewesen war, jedenfalls der einzigen Erinnerung nach zu urteilen, die mir wieder ins Gedächtnis gekommen war. Und ich hatte irgendwie das Gefühl, dass das nur die Spitze des Eisbergs gewesen war.
Emma und Charlotte gingen durch den Flur mit den Jahrbüchern, der mit Schnappschüssen von Schülern aus den vergangenen Schuljahren dekoriert war. Emma entdeckte ein Foto von Sutton, die mit ihren Freundinnen lachend im Pausenhof der Schule stand. Neben dem Foto hing ein Schnappschuss von Laurel und einem bekannten, dunkelhaarigen Typen, die nebeneinander auf der Tribü ne der Turnhalle saßen und Fingerhakeln spielten. Emma schaute noch einmal genauer hin. Es war der Junge, den sie gestern Abend an Suttons Pinnwand gesehen hatte … und heute auf der Vermisstenanzeige in der Polizeiwache: Madelines Bruder Thayer. Emma fragte sich, was mit ihm geschehen war. Wohin und warum er abgehauen war. Oder ob er sich wie Sutton nicht freiwillig auf den Weg gemacht hatte. »Wie war dein Tag so?« Charlottes Pferdeschwanz hüpfte auf ihrem Rücken herum.
»Ach, okay.« Emma wich zwei Mädchen aus, die ihnen entgegenkamen. Beide trugen Skripte für My Fair Lady unter dem Arm. »Aber alle meine Lehrer haben mich behandelt wie eine Schwerverbrecherin.«
Charlotte schniefte. »Und das wundert dich?«
Emma schaute zu Boden. Sie hätte am liebsten bejaht. Noch nie hatte eine Lehrerin sie als Satansbraten bezeichnet oder sie in die erste Reihe gesetzt, um sie »besser im Auge behalten zu können«, oder sie wütend angestarrt und zu ihr gesagt: »Alle Pulte im Zimmer sind am Boden festgenietet, Sutton. Nur zur Info.«
Äh, okay .
Aber Charlotte beklagte sich bereits über ihre Sportlehrerin und etwas, das sie das Gestanksventil nannte. »Und Mrs Grady in Geschichte hat es total auf mich abgesehen«, stöhnte sie. »Sie hat mich nach dem Klingeln nach vorne zitiert und gesagt: ›Du bist ein intelligentes Mädchen, Charlotte. Such dir andere Freunde als die Leute, mit denen ich dich immer sehe. Mach was aus deinem Leben!‹« Sie verdrehte die Augen.
Sie bogen in den Biologietrakt ein. Vor einem Klassenzimmer stand ein menschliches Skelett, das Emma einen Schauer über den Rücken jagte. Vielleicht sieht Sutton jetzt schon so aus, dachte sie.
Dann stieß Charlotte sie mit dem Ellbogen an. »Aber genug von mir. Wie geht’s dir?« Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete sie Emmas Hals. »Wo ist deine Halskette?«
Emma betastete ihre nackte Kehle. »Keine
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