LYING GAME Und raus bist du
wie er. Wahrscheinlich kümmern sie sich umeinander.«
Madelines Augen blitzten auf. »Wo hast du denn das gehört?«
Emma strich über den Saum des gestreiften Kleides von Anthropologie, das sie heute Morgen in Suttons Schrank entdeckt hatte. Sie kannte eine Menge Pflegekinder, die abgehauen waren, um sich aus ihrer miesen Lage zu befreien. Und auch sie selbst war einmal ausgerissen, um vor dem gewalttätigen Mr Smythe zu fliehen. Nach eine m besonders heftigen Abend hatte sie ihre Tasche gepackt und war abgehauen. Sie hatte gehofft, sie würde es bis nach Los Angeles, San Francisco oder eine andere weit entfernte Stadt schaffen. Auf dem Weg begegnete sie ein paar anderen Kids, die in einem verlassenen Wohnwagenpark hausten. Sie hatten sich dort ein kleines Lager eingerichtet, mit mehreren Zelten, Decken, Töpfen und Pfannen. Irgendwie beschafften sie sich Essen, und sie hatten sich sogar ein paar Fahrräder, ein Skateboard und eine PSP beschafft, deren Akku sie regelmäßig im örtlichen Dunkin Donuts aufluden. Weil Emma noch nicht einmal elf gewesen war, hatten sie die älteren Ausreißer unter ihre Fittiche genommen. Sie durfte immer in einem Zelt schlafen und wurde immer satt. In vielerlei Hinsicht hatten sie besser für Emma gesorgt als die meisten ihrer Pflegeeltern. Am vierten Tag, als Emma gerade begann, sich heimisch zu fühlen, kam die Polizei. Alle Kids wurden entweder zurück zu ihren Pflegefamilien oder ins Jugendgefängnis gebracht.
»Ich glaube, das kam mal im Fernsehen«, erklärte Emma schließlich.
»Na ja, ist ja auch egal.« Madeline warf ihr langes, glänzendes Haar zurück. Ihr Gesicht war wieder eine kühle, wunderschöne Maske. »Ein bisschen Kreditkartenmissbrauch wird’s schon richten. Ich will bei Charlottes Pyjamaparty etwas Neues tragen. Vielleicht eins dieser kurzen T-Shirt-Kleider von BCBG . Und wolltest du nicht neue J.Brand-Jeans für deine Geburtstagsparty?«
Sie fuhren auf den großen Parkplatz bei dem weitläufigen, offenen Einkaufszentrum. Madeline fand einen freien Platz und machte den Motor aus. Die beiden gingen zu den Rolltreppen, die auf die obere Etage führten. Die Luft war nach dem Regen frisch und kühl. Leise Fahrstuhlmusik erklang aus verborgenen Lautsprechern. Als sie im ersten Stock angekommen waren, entdeckte Emma am hinteren Ende der Ladenzeile ein Geschäft mit der Aufschrift »Bellissimo Secondhand«. Ein Schmetterling begann in ihrer Brust mit den Flügeln zu schlagen.
»Können wir da mal kurz reingehen?« Emma deutete auf den Laden.
Madeline blickte in die angegebene Richtung und zog eine Schnute. »Igitt. Wieso denn?«
»Weil man in Secondhandshops fantastische Sachen finden kann.«
Madeline kniff die Augen zusammen. »Aber wir gehen nie da rein.«
Emma hakte sich bei ihr unter. »Chloë Sevigny steht total auf Vintage-Klamotten. Und Rachel Zoe auch.« Sie zog Madeline den Flur entlang. »Komm schon. Wir müssen mal was Neues ausprobieren.« Der wahre Grund war allerdings, dass Emma sich auf keinen Fall ein paar Skinny-Jeans für zweihundert Dollar kaufen würde. Das war einfach nicht ihr Stil – und sie hätte sich schrecklich gefühlt, wenn sie das Geld der Mercers für einen so unnötigen Luxusartikel ausgegeben hätte. Außerdem wollte sie nicht ihre gesamte Persönlichkeit aufgeben, nur weil sie jetzt das Leben ihrer Schwester lebte.
Eine Türglocke klingelte, als Emma die Tür des Ladens aufstieß. Er roch wie alle Secondhandshops nach einer Mischung aus Mottenkugeln, Pappkartons und alten Damen. Ein kahl rasierter Schwarzer mit babyzarter Haut, der eine Jacke trug, die aus Schneeleopardenfell zu bestehen schien, saß hinter dem Tresen und blätterte in einer Cosmopolitan . Die Kleiderstangen platzten fast aus den Nähten und an einer Wand standen Regale mit Stiefeln und hochhackigen Schuhen. Emma stöberte in einer Kleiderkiste. Madeline stand bewegungslos bei der Tür, die Arme eng an ihren Körper gedrückt, als habe sie Angst vor Bakterien. »Schau mal.« Emma nahm eine Sonnenbrille mit golden getönten Gläsern von einem Ständer. »Die ist von Gucci.«
Madeline ging mit winzigen Trippelschrittchen zu Emma. »Die ist bestimmt gefälscht.«
»Die ist echt.« Sie strich über die verschränkten Gs und deutete auf die Aufschrift »Made in Italy«. »Ein echter Glücksgriff. Und spottbillig.« Sie zeigte Mads das Preisschild, das von einem Bügel hing. Vierzig Dollar. »Ich wette, die würde dir echt gut stehen. Und überleg mal –
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