LYING GAME Und raus bist du
Briefumschlag, schrieb Darias Name darauf und schickte den Brief ans Jugendamt. Sie schwor sich, nie wieder so etwas zu tun.
Schön, dass sie moralische Skrupel hatte, aber ich wollte nur, dass sie endlich dieses verdammte Tagebuch las.
Seufzend, als habe sie meine Gedanken gehört, heftete Emma den Blick auf die erste Seite und begann zu lesen.
Alle Einträge waren kurz und knackig, wie schnelle Twitter-Einträge oder spontane Eingebungen. Manchmal schrieb Sutton Dinge wie: Clogs von Elizabeth & James oder G-Party auf dem Mount Lemmon? Manchmal schrieb sie mit Ausrufezeichen. Ich hasse Geschichte! oder Mom kann mich am Arsch lecken! Die Einträge, die ein bisschen mehr Tiefgang aufzuweisen schienen, waren jedoch ziemlich unverständlich. C. stichelt die ganze Zeit , hatte Sutton am 10. Februar geschrieben. Sie soll sich mal zusammenreißen. Am 1. März: Ich hatte heute nach der Schule unerwarteten Besuch. Er ist wie ein süßer kleiner Welpe, der mir überallhin folgt. 9. März: M. hat sich heute selbst übertroffen. Manchmal glaube ich, C. hat recht, was sie betrifft.
Emma überflog die Seiten und versuchte, den Einträgen eine Bedeutung abzutrotzen. Viele drehten sich um L., womit nur Laurel gemeint sein konnte. L. hatte heute Morgen beim Frühstück genau das gleiche Outfit an wie ich. Und: Heute Nachmittag spielen wir L. einen genialen Streich. Vielleicht bereut sie dann, dass sie unbedingt beitreten wollte. Und dann am 17. Mai: L. ist immer noch total fertig wegen T. Reiß dich zusammen, du Weichei! Er ist bloß ein Typ! Emmas Blick blieb an dem Eintrag vom 20. August hängen, der erst anderthalb Wochen alt war: Wenn L. noch ein einziges Mal von diesem Abend spricht, dann bringe ich sie um.
Von welchem Abend?, hätte Emma am liebsten geschrien. Warum war Sutton so lächerlich vage? Schrieb sie ihr Ta gebuch etwa für die CIA ?
Ich war genauso frustriert wie sie.
Dann fiel ein kleines, quadratisches Stück Bastelpapier aus dem Notizbuch und schwebte zu Boden. Emma hob es auf, schaute auf die geschwungene Schrift auf der Vorderseite und sog scharf die Luft ein: »Lügenspiel-Mitgliedskarte«. Darunter standen Suttons Name, der Titel: »Präsidentin und Diva«, und dann ein Datum: Mai vor mehr als fünf Jahren.
Auf der Rückseite der Karte standen die Spielregeln:
1.Erzählt niemandem von diesem Spiel. Petzen wird durch sofortigen Ausschluss bestraft.
2.Die Clubmitgliedschaft ist auf drei Personen beschränkt.
3.Jeder neue Streich muss alle vorherigen übertreffen. Wer sich besonders hervortut, erhält eine Auszeichnung!
4.Wenn wir wirklich in Gefahr sind, wenn es sich nicht um einen Streich handelt, dann sprechen wir die heiligen Code-Wörter: »Ich schwöre es bei meinem Leben.« Das bedeutet: Sofort Hilfe holen!
Darunter stand eine Liste mit Streichen, die tabu waren. Hauptsächlich Dinge wie Tiere und kleine Kinder verletzen, unersetzliche oder sehr teure Gegenstände zu beschädigen (als Beispiel war der Porsche von Charlottes Dad aufgeführt) oder etwas Ungesetzliches zu tun (dahinter hatte jemand Ha! geschrieben). Mit blauer Tinte hatte jemand ganz am unteren Rand hinzugefügt: Keine Sex- SMS mehr , und den Satz dreimal unterstrichen.
Auch ich starrte auf die Mitgliedskarte. Mein Gehirn arbeitete auf Hochtouren. Ich erinnerte mich daran, wie Madeline, Charlotte und ich die Karten ausgeschnitten und uns gegenseitig so feierlich überreicht hatten, als handele es sich um Oscars. Aber an mehr erinnerte ich mich nicht.
Emma las die Mitgliedskarte immer wieder und fühlte sich gestärkt. Wenigstens wusste sie jetzt, was der Lügenspielclub war: Pfadfinderspiele für Psychopathinnen. Sie dachte wieder an den Snuff-Film. Vielleicht hatte er ja auch als Streich begonnen, bis eine von Suttons Freundinnen zu weit gegangen war …
Sie legte die Mitgliedskarte beiseite und wendete sich wieder dem Tagebuch zu. Auf der folgenden Seite las sie den Eintrag vom 22. August. Manchmal glaube ich, dass meine Freundinnen mich hassen. Und zwar ausnahmslos alle. Nicht mehr und nicht weniger. Darunter stand eine Art E inkaufsliste: Bananen, Blaubeeren, Süßstoff, Weizengra s-Entgiftungs-Drink.
Okaaaay, dachte Emma.
Die nächste Seite war voller Zeichnungen von Mädchen in Kleidern und Röcken. »Ideale Sommer-Outfits« lautete der Titel. Suttons letzter Eintrag stammte vom 29. August. Nur zwei Tage später hatte Travis Emma das Video gezeigt. Ich habe das Gefühl, dass mich jemand beobachtet , hatte Sutton mit
Weitere Kostenlose Bücher