LYING GAME Und raus bist du
immer so gewesen. Womöglich noch schlimmer.
Emma ließ sich in die Kissen fallen und starrte auf den rosafarbenen Lampion, der am Fenster hing. Sie versuchte, logisch zu denken. Die Mörderin musste das Video von der Seite genommen haben, weil sie wusste, dass Emma es sofort der Polizei vorlegen würde. Die Mörderin wusste natürlich auch, dass Emma nicht Sutton war. Emma versuchte, in ihrem Kopf einen zeitlichen Ablauf zu basteln. Hatte Sutton die Nachricht von Emma erhalten, ihr zurückgeschrieben und war dann zufällig in derselben Nacht ermordet worden? War Emmas Ankunft eine angenehme Überraschung für die Mörderin gewesen? Schließlich war aus heiterem Himmel eine Ersatz-Sutton in Tucson aufgetaucht. Niemand wurde vermisst, es gab keine panische Fahndungsaktion, niemand suchte nach einer Leiche. Kurz gesagt: Es gab kein Verbrechen.
Dann kam Emma ein Gedanke, der noch gruseliger war, und sie riss die Augen auf. Und wenn Sutton Emmas Nachricht gar nicht bekommen hatte? Hatte etwa die Mörderin Emma nach Tucson gelockt, und gar nicht Sutton? Eine Freundin von Sutton hätte sich ganz leicht in ihr Facebook-Profil hacken können. Vielleicht hatte sie Emmas Nachricht gelesen und sofort zurückgeschrieben, weil sie erkannt hatte, dass Emma ein naives Mädchen war, das sich leicht manipulieren lassen würde und Suttons Platz einnehmen konnte.
Eine winzige Spinne krabbelte über eine Ecke von Suttons Zimmerdecke und zog einen silbernen Seidenfaden hinter sich her. Emma stand auf, straffte die Schultern und ging zu dem Aktenschrank unter dem Schreibtisch ihrer Schwester. »Das L-Spiel« stand darauf. Auch bekannt als Das Lügenspiel .
Sie wog das schwere Vorhängeschloss in der Hand. I rgendwie musste das Ding doch aufzukriegen sein. Emm a riss Suttons Schubladen auf und suchte noch einmal nach dem fehlenden Schlüssel, tastete nach Geheimfächern an den Rückseiten, öffnete alle Schmuckschatullen und CD -Hüllen. Sie verteilte sogar den Inhalt einer fast vollen Packung Camel Lights auf dem Teppich. Tabakkrümel klebten an ihren Händen.
»Mach das Ding auf!«, feuerte ich sie unhörbar an. Meine Sachen waren mir inzwischen völlig egal. Ich war tot und wir mussten beide herausfinden, warum.
Dann fiel Emma etwas ein. Travis. Das YouTube-Video darüber, wie man ein Vorhängeschloss mit einer Bierdose öffnete. In der kurzen Zeit, in der Emma versucht hatte, sich mit Travis anzufreunden, hatte er ihr auch das Video gezeigt. Es hatte nicht schwierig ausgesehen.
Sie sprang auf und fand eine leere Coladose auf Suttons Fensterbank. Sie zeichnete den Umriss des Pseudo-Dietrichs, der das Schloss öffnen würde, holte sich eine Schere und begann zu schneiden. Bald hatte sie einen M-förmigen Dietrich in der Hand, genau wie der angehende Kleinkriminelle im Video. Sie führte ihn in den linken Bügel ein, und sofort gab die Kugel nach und das Schloss sprang auf. Emma musste grinsen. »Danke, Travis«, murmelte sie. Sie hätte nie gedacht, dass sie einmal so etwas sagen würde.
Das Schloss fiel zu Boden, und die Schublade öffnete sich kreischend. Emma schaute hinein. Auf dem Boden lag ein dickes Notizbuch mit Spiralbindung. Das war alles.
Emma holte es heraus und legte es sich auf den Schoß. Auf dem Deckblatt stand nichts – es gab weder Kritzeleien noch einen Namen, nur dicke blaue Pappe. Die Spiralbindung war ebenmäßig gerollt und weder verbogen noch rostig. Sie schlug die erste Seite auf. Sie war mit Suttons runder, ordentlicher Handschrift gefüllt, die Emmas fast aufs Haar glich.
Der erste Eintrag begann mit dem Datum 10. Januar .
Emma zog den Bauch ein. Wollte sie wirklich das Tagebuch ihrer Schwester lesen? Als sie in Carson City gelebt hatte, war sie oft in das Schlafzimmer ihrer älteren, mysteriösen Pflegeschwester Daria geschlichen, die ihr keinerlei Aufmerksamkeit geschenkt hatte. Sie hatte jede Seite von Darias Tagebuch gelesen, in dem es hauptsächlich um Jungs ging, und darum, dass sie ihre Arme und Beine zu fett fand. Emma hatte auch die Taschen von Darias Jeans durchstöbert. Einmal hatte sie aus Darias Zimmer ein Paar Kopfhörer geklaut, nur, weil sie ihr gehörten. Danach hatte sie bei jedem heimlichen Besuch in Darias Zimmer eine Kleinigkeit mitgehen lassen: eine Rap- CD , ein schwarzes Gummiarmband, ein Pröbchen Chanel No. 5. Nachdem Emma zu der nächsten Pflegefamilie gekommen war, schämte sie sich für ihre Diebstähle. Sie steckte alle Sachen, die Daria gehörten, in einen gepolsterten
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