LYING GAME Und raus bist du
Gegend. Emma war eine meisterhafte Gebrauchtwaren-Shopperin. Sie wusste genau, an welchen Tagen neue Lieferungen eintrafen, wie man Preise herunterhandelte und wo man in den Schuhkisten die besten Stücke fand – ganz am Boden. Einmal hatte sie so ein Paar fast neue Kate-Spade-Ballerinas ergattert.
Als Letztes nahm Emma die alte Polaroidkamera und einen dicken Stapel Polaroidbilder aus der Ecke der Schu blade. Die Kamera hatte Becky gehört, aber Emma hatte sie an dem Abend, an dem ihre Mom abgehauen war, zu ihrer Freundin Sasha mitgenommen. Kurz danach hatte Emma begonnen, die Fotos von ihrem Leben und ihren Erlebnissen bei den Pflegefamilien mit Nachrichten-Schlagzeilen zu unterlegen: »Pflegemom hat Nase voll von Kids, schließt sich im Schlafzimmer ein und schaut Erwachsen müsste man sein .« »Hippies wandern spontan und unangekündigt nach Florida aus.« »Halbwegs anständige Pflegemutter bekommt Job in Hongkong, Pflegekind wird nicht eingeladen.« Sie war die einzige Journalistin, die von der Emma-Front berichtete. Wenn sie heute in besserer Verfassung gewesen wäre, hätte sie eine neue Titelstory verfasst: »Gemeiner Pflegebruder ruiniert Leben eines Mädchens.« Oder vielleicht: »Mädchen entdeckt Doppelgängerin im Netz. Eine lang vermisste Schwester?«
Emma verweilte bei diesem Gedanken. Sie schaute auf den alten Dell-Laptop auf dem Boden, den sie in einem Pfandleihhaus erstanden hatte. Mit einem tiefen Atemzug stellte sie ihn aufs Bett und klappte ihn auf. Der Bildschirm erwachte zum Leben und Emma rief schnell die Videoseite auf, auf der Travis den gestellten Erwürgungsfilm gefunden hatte. Das inzwischen wohlvertraute Video war der erste Treffer. Es war heute am frühen Abend gepostet worden. Emma drückte auf Play und das körnige Bild erschien. Das verhüllte Mädchen bäumte sich auf und fuchtelte mit den Händen. Die dunkle Gestalt zog die Kette um ihren Hals enger. Dann fiel die Kamera um, und jemand trat vor die Linse und riss die Augenbinde ab. Das Gesicht des Mädchens war aschfahl, sie wirkte benommen. Panisch schaute sie sich um, ihre Augen bewegten sich wie Murmeln in ihren Höhlen. Dann schaute sie in die Kamera. Ihre blaugrünen Augen waren glasig, die Lippen leuchtend rosa. Ihr Gesicht glich Emmas aufs Haar. Jedes Detail stimmte.
»Wer bist du?« , flüsterte Emma. Ein kalter Schauer lief ihr über den Rücken.
Ich wünschte, ich hätte ihr eine Antwort geben können. Ich wünschte mir, ich könnte irgendetwas Sinnvolles tun, anstatt wie ein gruseliger Stalker-Geist stumm über ihr zu schweben. Es war, als würde ich einen Film anschauen, aber ohne die Möglichkeit, dazwischenzurufen oder Popcorn auf die Leinwand zu werfen.
Der Clip endete, und die Site fragte Emma, ob sie ihn noch einmal ansehen wollte. Die Bettfedern knarrten, als sie ihr Gewicht verlagerte. Sie dachte nach. Einen Augenblick später tippte sie »SuttonInAz« in die Google-Suchleiste. Es gab ein paar Treffer, darunter auch eine Facebook-Seite gleichen Namens. »Sutton Mercer«, stand dort. »Tucson, Arizona.«
Vor dem Fenster quietschten Reifen. Es klang wie irres Gelächter. Die Facebook-Seite lud, und Emma schnappte nach Luft. Dort stand Sutton Mercer im Foyer eines Hauses, umringt von ein paar Mädchen. Sie trug ein schwarzes Trägerkleid, ein glitzerndes Haarband und silberne Sandaletten. Emma starrte blinzelnd und mit flauem Magen ihr Gesicht an. Sie beugte sich über den Bildschirm, überzeugt davon, dass es irgendeinen Unterschied zwischen ihr und Sutton geben musste, aber alles bis hin zu Suttons zarten Ohren und den absolut ebenmäßigen und geraden Zähnen war absolut identisch mit ihr.
Je länger Emma darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher erschien ihr die Möglichkeit, dass sie eine Zwillingsschwester hatte, von der sie nichts wusste. Erstens fühlte sie sich hin und wieder durchs Leben begleitet, als beobachte sie jemand. Und manchmal wachte sie morgens nach verrückten Träumen über ein Mädchen auf, das aus sah wie sie … aber nicht sie war. Die Träume waren imme r sehr lebendig: Sie ritt auf einem gesprenkelten Appaloosa auf einer Farm oder schleppte eine dunkelhaarige Puppe über eine Veranda. Wenn Becky verantwortungslos genug war, Emma im Supermarkt einfach zu vergessen, hatte sie dasselbe vielleicht auch mit einem anderen Baby gemacht. Womöglich waren das zweite Paar Schuhe, das die manische Becky immer gekauft hatte, gar nicht für Emma gewesen, sondern für ihre
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