Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
zwinkerte. „Gefällt dir das Haus?“
„Ja, sicher. Es ist sehr schön. Gut, der Weg von der Praxis hier her ist deutlich länger als zu meiner Wohnung, aber in Berlin kommt man mit U- und S-Bahn überall hin. Man muss sich nur ein ordentliches Sitzfleisch zulegen.“
„Das wird den Marquis freuen.“
„Dass ich Sitzfleisch ansetzen muss?“
„Dass dir sein Haus gefällt. Gehen wir in die Bibliothek.“ Keine Spur Humor hatte der Mann.
Er trat in den Flur, rollte einen kleinen Läufer zurück, der auf den Dielen ausgebreitet war, und öffnete die sich darunter befindliche Falltür. Wackelig stieg er knarrende Stufen ins Dunkel hinab. Joli hätte über den ungewöhnlichen Zugang zur Bibliothek überrascht sein müssen, war es aber nicht. Wahrscheinlich hätte es sie nicht einmal verwundert, wenn es hier einen Geheimgang hinter dem Kamin gegeben hätte. In diesem Haus schien nichts unmöglich. Joli fürchtete, er würde stürzen, aber Tremonde wusste genau was er tat und wohin er treten musste, um sicher nach unten zu gelangen. Dort angekommen schaltete er das Licht ein und winkte Joli hinunter. Sie nahm all ihren Mut zusammen und folgte Tremonde die gefährlich steile Treppe hinab. Mit beiden Händen hielt sie sich an dem morschen Geländer fest, riss dabei einige Spinnennetze entzwei, und kam unbeschadet im Kellergewölbe an, das größer aussah, als sie erwartet hatte. Die Regale reichten bis zur Kellerdecke und waren bis zum Rand mit Büchern gefüllt. Ein Paradies für jede Leseratte. Tremonde zog einen alten, dicken Wälzer aus einem der Regale und pustete den Staub ab, der sich glitzernd in der Luft verteilte und Joli zum Husten reizte.
„Komm“, sagte er, setzte sich an einen Schreibtisch unter eines der Regale und klappte das Buch auf. Erneut bildete sich eine Staubwolke. Der letzte Frühjahrsputz lag offenbar einige Jahre zurück. Hoffentlich erwartete der sexy Marquis nicht von ihr, dass sie hier unten Ordnung schaffte. Die Vorstellung überforderte sie. „Ich habe dir bisher nicht die ganze Wahrheit gesagt, Joselin.“
Diese Offenbarung riss Joli aus ihren Gedanken. Er deutete auf den Hocker neben sich. Neugierig, doch auch ein wenig ängstlich, nahm sie neben ihm Platz und sah ihn fragend an.
„Der Herr ist kein Mensch. Sondern ein Lykanthrop.“
„Ein Werwolf?“, schoss es aus ihr heraus.
Nun war es Tremonde, der überrascht dreinblickte. „Du weißt was ein Lykanthrop ist?“
„Ich interessiere mich für Psychologie. Die Lykanthropie ist eine Form der Therianthropie, also der Glaube, sich in ein Tier verwandeln zu können. Diese Art der Geisteskrankheit ist noch nicht vollständig erforscht, die Wissenschaftler sind sich über die Ursachen uneinig und ...“, sie hielt inne. Der Marquis, der attraktive junge Mann mit dem hellblauen Frotteehandtuch, litt an geistiger Verwirrung. Das war ein harter Schlag, erklärte aber auch, warum er eine Haushaltshilfe brauchte. Allein kam der Ärmste offensichtlich nicht zurecht. Vielleicht ließ sich die Krankheit mit Medikamenten behandeln.
Tremonde sah sie auf unheimliche Weise an. „Er
ist
ein Werwolf.“
Joli wusste im ersten Moment nicht, wie sie reagieren sollte. Minuten verstrichen, ohne dass ein Wort über ihre Lippen kam. Das war in der Tat eine Offenbarung, mit der sie nicht gerechnet hatte. Als nächstes würde er ihr verkünden, er sei ein Vampir. Aber Gott sei Dank, machte er ihr dieses Geständnis nicht.
Dennoch, ihr Vater meinte es ernst. Langsam schüttelte sie den Kopf. Ein Werwolf also. Natürlich. Was auch sonst.
Um Tremondes Augen bildeten sich kleine Lachfalten. Dann nickte er heftig, wie ein Wackelkopftier, das Autofahrer mit besonders exquisitem Geschmack in ihrem Rückfenster ausstellten.
„Ich wusste, dass du so reagieren würdest.“ Tremonde lächelte milde. „Ja, ja, das wusste ich. Aber wer kann es dir verdenken, mein Kind? Meine Worte müssen unglaublich für dich klingen. Was wirst du erst sagen, wenn ich dir die ganze Geschichte erzählt habe?“
„Oh, es kommt noch mehr?“
„Viel mehr. Die Geschichte des Herrn wird dich an deinem Verstand zweifeln lassen. Oder an meinem. Das wird sich zeigen. Ich möchte dich nur bitten mir zuzuhören, bis ich sie beendet habe. Mehr verlange ich nicht. Für den Augenblick.“
Joli war sich noch immer nicht ganz sicher, ob ihr Vater Scherze machte oder ob Medikamente seinen Geist verwirrten.
„In Ordnung, schieß los“, sagte sie mit unterdrücktem
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