Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
würde sie nicht so eindringlich anschauen. Sein intensiver Blick löste ein aufregendes, jedoch momentan völlig unpassendes Prickeln in ihr aus.
„Sagen wir ruhig du zueinander“, meinte er schließlich und lehnte sich zurück, während er lässig die Beine übereinander schlug, ohne dabei jedoch seine aristokratische Ausstrahlung zu verlieren.
„Warum?“
Die Frage schien ihn zu überraschen. „Warum nicht?“
„Machen Sie für mich eine Ausnahme, weil ich eine Frau bin? Meinen Vater duzen Sie auch nicht.“
„Fein beobachtet. Ihr Vater gehört einer anderen Generation an. Ich glaube Ihre Generation nimmt es mit Umgangsformen nicht so genau.“
„Wie meinen Sie das? Ich habe Sie doch nach der richtigen Anrede gefragt.“
„Verzeihen Sie, ich wollte Sie nicht beleidigen.“ Er lächelte beschwichtigend.
„Schon gut. Völlig von der Hand zu weisen ist es ja nicht.“ Sie war eigentlich froh darüber, dass sich die Umgangsformen geändert hatten und die Menschen nicht mehr so bieder waren wie früher.
„Du hast eine erfrischende Art. Ich glaube, jemand wie du in meinem Haus wird mir sehr gut tun.“
Joli knetete ihre Hände und richtete sich in dem Bett auf. Offensichtlich glaubte er, sie würde bei ihm einziehen. Sie bezweifelte ihre beiden Katzen würden sich im Haus eines Werwolfs wohlfühlen.
Andererseits war der Gedanke mit einem der attraktivsten Männer, die ihr jemals begegnet waren, in einer vornehmen Villa zu wohnen, schon verführerisch. De Sagrais besaß die Fähigkeit, sie völlig durcheinander zu bringen. Sie vermutete, dass das Leben mit ihm zu einer Berg- und Talfahrt der Gefühle werden würde. Und solche Fahrten wollte sie nach ihrer Trennung von ihrem Ex eigentlich vermeiden.
„Ich sagte nie, dass ich hier einziehe.“
„Und wo möchtest du dann leben?“
„In meiner Wohnung. Ich weiß, Berlin Mitte ist kein Bezirk, in dem sich jemand wie du wohl fühlen würde, aber ich lebe gern dort. Die Menschen sind herrlich unkompliziert. Du merkst schon, ich mag es unkompliziert. Was deinen Haushalt angeht, mach dir keine Sorgen. Ich werde täglich vorbei kommen.“
De Sagrais nickte, aber es war ihm anzusehen, dass er mit dieser Lösung nicht zufrieden war. „Akzeptiert, wenn auch bedauernd.“
Joli nickte und sank in ihr Kissen zurück. Das war für den Anfang sicher das Beste. Sie musste sich erst einmal hier zurecht finden und ihn besser kennen lernen, bevor sie eine solch wichtige Entscheidung fällte.
„Ruh dich noch ein wenig aus“, sagte de Sagrais. „Und wenn es dir besser geht, erzählst du mir, was du erfahren hast.“
„Wie meinst du das?“
„Du gehörst zu den Wolfsängern, wie dein Vater auch. Unsere Schicksale sind miteinander verwoben. Du bist mein Ohr und ich dein Arm. Du führst uns zu unserem Feind und ich schalte ihn aus.“
„Es war Lykandra, die zu mir sprach, nicht wahr?“ Joli spürte, wie sich eine Gänsehaut auf ihrem Rücken bildete. Die vielen, hohen Kinderstimmen, gehörten der Mutter aller Werwölfe. „Ich habe ihre Botschaft nicht verstanden, ich fürchte, ich muss erst lernen, sie zu entschlüsseln.“
„Nur Geduld. Du hast heute vieles erlebt. Mit der Zeit wirst du sie verstehen“, sagte er und schenkte ihr erneut sein warmes Lächeln, bevor er sich erhob und entschlossen zur Tür schritt. Sein Gang war federnd und erinnerte an den eines Wolfes.
Als Joli die Augen wieder aufschlug, war es bereits finstere Nacht. Obwohl sie sich alle Mühe gegeben hatte, auf keinen Fall noch einmal einzuschlafen, hatte die Erschöpfung sie schließlich doch übermannt. Nun war sie immer noch in der Villa, dabei wollte sie längst in ihren eigenen Federn liegen.
Mit einem Laut des Unmutes warf sie die Decke zurück, setzte sich auf und suchte nach ihren Schuhen, die man ihr ausgezogen hatte, bevor man sie ins Bett gelegt hatte. Sie war erleichtert, als sie ihre Gummisandalen unter dem Stuhl entdeckte, auf dem zuvor de Sagrais gesessen hatte. Flink zog sie diese über und schlich zur Tür. Es war ruhig im Gang. Wahrscheinlich schliefen bereits alle. Oder de Sagrais streifte in seiner Tiergestalt durch den Wald. Das hätte sie zu gern gesehen. Vielleicht ergab sich irgendwann eine Gelegenheit. Nun hatte sie erst einmal andere Sorgen. Hoffentlich fuhr hier ein Nachtbus. Das Geld für ein Taxi wollte sie nur ungern ausgeben. Und übernachten wollte sie hier auch nicht allzu gern, Abby und Pawy mussten morgen früh versorgt werden. Sie öffnete die
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