Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
unseren mehrdimensionalen Therapieansatz vorstellen.“ Mit diesen Worten ging er zügig zur Tür. Seine Beine wirkten überdimensional lang und erinnerten an die Hinterbeine einer Heuschrecke. Bevor er jedoch gänzlich verschwand, drehte er sich noch einmal um und nickte knapp. „Auf wiedersehen.“
Joli sah ihm nach und atmete erleichtert auf, als der schräge Typ ihr Zimmer verlassen hatte. Dieser Mann sah nicht gerade wie ein Arzt aus, dem sie vertrauen konnte. Im Gegenteil. Er hatte etwas an sich, das ihr unheimlich war. Seine Haut war auffallend blass, das Gesicht eingefallen und ein paar Pfund mehr auf den Rippen konnten ihm nicht schaden.
Noch etwas wackelig auf den Beinen kletterte sie aus dem Bett und ging zu dem weißen Schrank, in dem sie ihre Kleidung vermutete. Fehlanzeige. Zumindest ihre Brille entdeckte sie im oberen Fach. Sie stellte sich auf die Zehenspitzen, um sie zu erreichen. Als sie ihr entgegenfiel, fing Joli sie geschickt auf und setzte sie dorthin, wo sie hingehörte.
Sie wollte abhauen, so schnell wie möglich, bevor man sie mit mehr Drogen voll pumpte, die ihr Bewusstsein veränderten. Doch in diesem Nachthemdchen machte sich eine Flucht nicht sonderlich gut. Na schön, es ging auch ohne Hose. Sie ärgerte sich über ihren Fauxpas mit den Vampiren. Hätte sie nur ihre dumme Klappe gehalten. Nun glaubte Dr. Freck natürlich erst recht, dass sie verrückt war. Wie sollte er auch ahnen, dass seine Pflegekraft in Wahrheit eine ausgefuchste Vampirin war.
Sie schleppte sich zur Tür, öffnete sie und lugte in einen sterilen Gang, an dessen Wänden vereinzelt Bilder hingen. Moderne Kunst. Bunt und schrill. Von schwarzem Holz umrahmt.
Niemand war zu sehen. Sie schlich hinaus und wünschte, sie hätte ihren Körper besser unter Kontrolle. Es kostete sie einiges an Kraft, sich überhaupt zu bewegen. An einen zügigen Schritt war nicht zu denken. Endlich erreichte sie eine doppelseitige Glastür, auf der in dicken Lettern ‚Geschlossene Station’ stand. Sie rüttelte an dem Knauf, doch die Tür ließ sich nicht öffnen. Um hier heraus zu kommen, brauchte man einen Schlüssel, der sich vermutlich nur im Besitz der befugten Ärzte und Schwestern befand. Sie probierte es noch mal aber die Tür blieb verschlossen. Joli wischte sich die schweißnassen Hände an ihrem Nachthemd ab und berührte dabei ihre Brust. Verwundert hielt sie inne. Sie vermisste auf Anhieb den mittlerweile gewohnten Widerstand, wenn sie diese Stelle berührte. Sie blickte in ihren Ausschnitt und stellte erschrocken fest, dass das Wolfsauge verschwunden war.
„Frau Balbuk! Zurück mit Ihnen auf Ihr Zimmer“, schimpfte jemand hinter ihr. Erschrocken drehte sie sich um und blickte in das faltige Gesicht einer Pflegerin mit feuerroten Haaren. „So geht das nicht, junge Dame! Wir sind nicht auf der Kirmes.“
„Regen Sie sich nicht auf, Schwester Ivonne.“ Eine zweite Frau kam den Gang hinauf. Sie trug einen dunkelblauen Overall, der Joli an die Vorschriftskleidung aus der Tierarztpraxis erinnerte. Freundlich legte sie eine Hand auf Jolis Schulter und erklärte im ruhigen Ton: „Ich wollte Sie gerade abholen. Mein Name ist Erika Glanz. Ich bin die Ergotherapeutin im Haus. Kommen Sie am besten gleich mit.“
„Ich rege mich nicht auf“, gab Ivonne schnippisch zurück und verschränkte die Arme.
„Wohin?“, fragte Joli misstrauisch.
„In den Gestaltungsraum natürlich.“ Sie lachte herzlich.
Joli hingegen zuckte die Schultern. „Meinetwegen.“ Die Situation war surreal.
Frau Glanz führte Joli in einen abzweigenden Flur und ließ die sprachlose Schwester Ivonne stehen. „Nehmen Sie es Ivonne nicht übel. Sie ist anfangs ein wenig schroff, doch wenn man sie näher kennt, merkt man schnell, dass sie das Herz am rechten Fleck hat.“
„Wenn Sie meinen.“
„Aber ja. Kommen Sie, ich gebe Ihnen erst einmal etwas zum Anziehen.“
Sie ging in einen nahegelegenen Raum und kam kurz darauf mit einem dunkelblauen Bademantel zurück. Joli schlüpfte dankbar hinein und folgte schlurfenden Schrittes Frau Glanz, die einen halben Kopf kleiner war als sie, durch die Station. Trotz ihres geringen Wuchses strahlte die Ergotherapeutin ein Selbstbewusstseinvon mindestens der doppelten Größe aus. Joli beneidete sie darum, denn sie fühlte sich mit ihren einssechzig oft genug als Zwergin, und sie zweifelte daran, dass es Frau Glanz genauso ging.
„Da wären wir schon.“ Sie schob Joli durch eine Tür in einen Raum, der an
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