Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
seufzte. Es blieb ihm wohl nichts anderes übrig, als die Tür selbst aufzuschließen. Vorsichtig stellte er das Tablett auf den Boden, wühlte in seiner Hosentasche nach dem Schlüssel, öffnete und stieß die Tür auf.
„Wieso öffnest du nicht?“, fragte er leicht irritiert und stellte sich vor ein leeres, ungemachtes Bett. Er warf einen Blick ins Bad, das genauso menschenleer war wie der Wohn- und Schlafbereich. „Joli? Wo bist du?“, rief er, aber es antwortete niemand. Allmählich beschlich ihn ein ungutes Gefühl. So schnell er nur konnte stürmte er den Flur entlang, die Treppe hinunter, bis er um ein Haar mit der Wirtin im Vorraum zusammenstieß, die ein Tablett mit zwei Porzellantassen und einer Teekanne transportierte.
„Vorsicht, Vorsicht, junger Mann“, sagte sie und lachte herzlich. Doch das Lachen verging ihr schnell, als sie Rems besorgten Gesichtsausdruck sah.
„War meine Begleitung heute Morgen schon unten? Haben Sie sie gesehen? Wo ist sie hingegangen?“
Else zuckte hilflos die Schultern und sah ihn verwirrt an. „Warum fragen Sie mich das, Sie haben doch das Zimmer mit ihr geteilt.“
Rem schlug sich gegen die Stirn und fuhr mit der Hand über sein Gesicht. „Ich schlief im Wagen“, gab er schließlich zu. Der Gesichtsausdruck der Wirtin war immer noch verwirrt. „Ich schnarche.“ Er hoffte, dass sie sich mit dieser Begründung zufrieden gab.
Ihre Miene erhellte sich verstehend. „Mein Mann schnarcht auch, ich wünschte, er wäre so rücksichtsvoll wie Sie. Aber er käme nie auf den Gedanken in unserem Wagen zu schlafen. Deswegen benutze ich seit Jahren Ohrstöpsel aus Wachs, die helfen und ...“
„Haben Sie Joli gesehen?“, drängte er.
Sie schüttelte den Kopf. „Tut mir leid. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.“
„Verflucht.“ Er ließ die Frau stehen und rannte die Treppe wieder hinauf. Vermutlich gab es eine logische Erklärung. Vielleicht war sie joggen. Er musste sich eingestehen, dass er ihre morgendlichen Gewohnheiten nicht kannte. Dennoch machte sich ein Gefühl der Panik in seiner Brust breit. Verdammt, es gelang ihm nicht, einen klaren Gedanken zu fassen.
Komm schon, Remierre, konzentriere dich
. Womöglich hatte sie ihm eine Nachricht geschrieben, die er in der Aufregung übersehen hatte. Er sah sich noch einmal genauer im Zimmer um.
Sein Atem ging rasch, obwohl er nach außen die Ruhe in Person war, während er den Flur betont langsam entlang schritt. Jolis Verschwinden wühlte ihn derart auf, dass er nicht mehr Herr der Lage war. Es erschreckte ihn, wie sehr er sich um sie sorgte. Er fragte sich, weshalb er nicht einfach sachlich reagierte. Er kannte die Antwort im selben Moment, in dem er sich die Frage gestellt hatte. Und diese Antwort gefiel ihm nicht, bestätigte sie doch nur das, was er ohnehin schon befürchtet hatte.
Er hatte sich auf seine alten Tage noch einmal verliebt. Wie lächerlich und albern das war. Besonders für einen Mann in seiner Situation, der die Welt und das Leben kannte, der jede Frau, die ihm ans Herz wuchs, überleben würde, der dazu verdammt war, auf ewig allein zu bleiben.
Sein Blick schweifte von den Garderobenhaken zum Fenster, hin zu der Couch, dem schmalen Wandspiegel, der Badezimmertür und schließlich zu dem großen, ungemachten Doppelbett. Nichts. Keine Nachricht. Keine Spur. Das Bett knarrte, als er sich auf die Kante setzte und mit beiden Händen über sein Gesicht fuhr.Joli schlug die Augen auf. Rasch atmend sah sie sich um. Sterile Wände. Sie hatte das Gefühl, durch milchiges Glas zu sehen. Weiß und kahl, wie im Krankenhaus, so sahen sie aus. Nirgends hingen Bilder, keine Tapeten, nicht einmal ein farbiger Anstrich. Bei dem Anblick der beiden vergitterten Fenster zu ihrer Linken überkamen sie Beklemmungen. Die heruntergelassenen Jalousien verhinderten, dass Tageslicht in den Raum drang. Zitternd rieb sie sich die schmerzenden Schläfen. Sie fühlte sich benommen, doch es war unbedingt wichtig, dass sie in dieser Situation klar denken konnte. Wo war sie nun schon wieder gelandet?
Noch ehe sie eine Antwort fand, öffnete sich die Tür und ein hagerer Mann im weißen Kittel kam herein. Zielstrebig lief er zum Waschbecken auf der gegenüberliegenden Seite des Zimmers, um sich die Hände zu waschen.
„Nur noch einen Moment, Frau Balbuk, ich bin gleich für Sie da“, nuschelte er und trat näher an sie heran. Offensichtlich kannte er ihren Namen. „Sie sehen besser aus, nachdem Sie einige Stunden
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