Lykandras Krieger 1 - Wolfsängerin (German Edition)
Glasscheibe.
Joli stellte sich auf die Zehenspitzen und lugte in den Schlossgarten. Die große Eiche entdeckte sie ohne jede Mühe, doch den Wolf sah sie nirgends.
„Wo denn?“
„Direkt vor dir, auf der Wiese. Sieh nur, er winkt mir zu. Hallo, Gabriel!“
„Da ist niemand.“
„Meine Damen! Zurück in den Kreis! Hopp, hopp.“
„Sieh hin, sieh genau hin.“
So sehr sich Joli auch anstrengte, es befand sich kein Wolf im Schlossgarten, nicht einmal ein Hund oder ein Frettchen. „Es tut mir leid Elli.“ Noch während sie diese Worte aussprach hatte sie das Gefühl, als würde sich der Boden unter ihren Füßen bewegen, sie ein Stück aus dem Gleichgewicht bringen. Sie legte ihre Hand auf den Arm der jungen Frau und sagte leise: „Ich glaube, das bildest du dir alles nur ein.“
Ellis Augen glänzten von den Tränen, die sich am unteren Rand sammelten.
„Du hast ihn nicht gesehen?“
„Dort draußen ist kein Wolf“, sagte Joli und ihre Stimme zitterte. Auch ihre Augen füllten sich mit Tränen. Die Erkenntnis, die ihr Weltbild mit einem harten Schlag ein weiteres Mal zerstörte, war fast zu brutal, um sie zu ertragen. Elli rannte schluchzend zu Patricia und fiel der Therapeutin in die Arme. Joli bekam nicht mit, worüber sie sprachen, sie sah lediglich, dass sich Elli an die große, schlanke Frau klammerte und bitterlich weinte. Die Männer und Frauen starrten das ungleiche Paar mit neugierigen Gesichtern an.
„Sollen wir weiter im Kreis laufen?“, fragte einer von ihnen, aber Joli bekam Patricias Antwort nicht mit.
Sie blieb starr am Fenster stehen und blickte zur großen Eiche, deren riesige Krone prachtvoll im Sommerwind schaukelte. Alles um Joli herum trat in den Hintergrund, war nicht mehr wichtig. Sie vergaß, wo sie war, wer sie war. Wenn es stimmte, was Dr. Freck gesagt hatte, dann existierten keine Vampire. Und somit keine Werwölfe, kein Remierre de Sagrais. Alles, was sie in den letzten Tagen erlebt hatte, hatte lediglich in ihrem Kopf stattgefunden. Sie war Elli. Wie die junge Frau hatte auch sie in einer Traumwelt gelebt. Einer Traumwelt, die so erschreckend real wirkte, dass Joli sich in ihr verloren hatte.
Sie rieb sich die schmerzende Stirn. Ihre Schläfen pochten, der Schädel brummte, als hätte sie am Abend zuvor zu viel Alkohol getrunken.
Werwölfe. Natürlich gab es keine Werwölfe. Wie hatte sie nur jemals an solch einen Unsinn glauben können? Wie hatte sie glauben können, dass ein Kristall auf ihrer Brust verwachsen war, mit dessen Hilfe sie obendrein auch noch kommunizieren konnte? Alles Unsinn!
Ernüchtert überkam sie langsam das Gefühl wieder etwas klarer zu sehen, klarer zu denken, die echte Welt wahrzunehmen. Nicht mehr gefangen zu sein in dieser Traumwelt, in der sie sich so wohl und zum ersten Mal in ihrem Leben richtig wertvoll gefühlt hatte. In der sie sich verliebt hatte. Das Gefühl hatte ein Teil von etwas Wichtigem zu sein, ihren Vater wiedergefunden hatte.
Die sie sich jedoch nur ersponnen hatte. Es überkam sie ein unbändiges Gefühl der Trauer und Einsamkeit. Rem gab es nicht. Ihr war, als wäre ihr bester Freund gestorben und mit ihm ein Teil von ihr. Sie blickte zu Elli und verstand warum diese so schrecklich weinte. Sie wollte auch weinen, doch ihre Tränen hatten sich wieder zurückgezogen, waren von der eiskalten Erkenntnis förmlich eingefroren. Ihr war als würde der Raum um ein paar Grad kälter werden, es fröstelte ihr und eine schreckliche Leere machte sich in ihr breit.
Etwas von ihrem Innersten musste sich auf ihrem Gesicht widergespiegelt haben, denn Patricia kam auf Joli zu und legte fürsorglich eine Hand auf ihre Schulter
„Und wie geht es Ihnen, haben Sie sich von dem Schrecken erholt?“
Ein hysterisches Lachen wollte aus ihr herausbrechen, aber sie lachte nur leise über die Ironie dieser Frage. Der Schrecken hatte gerade erst begonnen. Sie war verrückt. Zumindest zeigte sie Einsicht, und die war bekanntlich der erste Schritt zur Besserung.
„Ich möchte bitte mit Dr. Freck sprechen.“
Patricia nickte.
Remierre wusste nicht, wie lange er tatenlos auf der Bettkante gesessen und die gegenüberliegende Wand angestarrt hatte. Seine Gedanken waren immerzu um Joli gekreist. Und sie taten es auch jetzt noch. Sein Herz brannte, weil er das Gefühl hatte, etwas Wertvolles verloren zu haben. Etwas, das sein Leben bereichert hatte.
Die Tür stand noch immer offen. Er hörte, wie jemand die Treppe hinauf kam. Bedrückt richtete
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