Lyon - A.M.O.R. 01
kurzfristig aus, um brutal in einem rasanten Rhythmus weiterzupochen. Sie nickte, stopfte wenige Kleidungsstücke in eine Plastiktüte und zog in Ermangelung der Auswahl eine dunkle Stoffhose und einen Rollkragenpullover an. Einen Habit oder eine Tracht brauchte sie nicht anzulegen. Der Orden hatte entschieden, Gästen und den Mitgliedern der Ordensgemeinschaft die Alternative der zivilen Kleidung zu überlassen.
Sie ließ den Blick kurz durch den kargen Raum schweifen, dankte Gott und dem Kloster für die barmherzige Aufnahme, die Fürsorge und den steten Zuspruch und schlich dämmergraue Flure entlang. Düstere Gedanken begleiteten sie, die Vergangenheit verwob sich in einem losen Knäuel mit der Gegenwart, als würde alles einen Sinn ergeben.
Adina war zwar als Waise in Isolierung aufgewachsen und zur Klosterschule gegangen, doch sie hatte sich nie dem Orden übereignet – wie sie es nannte. Sie wollte ihr Leben nicht in die Hände anderer legen, folgte ihrem Vorsatz bis heute und würde auch genauso ihre Zukunft in Angriff nehmen. Sie hatte geglaubt, es läge an ihrer Unnahbarkeit, wenige Freunde oder Beziehungen gehabt zu haben. Aber schon als Jugendliche schwelte eine unbändige Glut in ihr, auf eigenen Füßen stehen zu wollen, die sie erst zum Feuer entfachen durfte, als sie mit sechzehn ihre gewohnte Umgebung verließ. Richtig Zuhause hatte sie sich jedoch bisher an keinem Ort und bei keinem Menschen gefühlt. Vermutlich blockte sie Nähe ab, bevor es ihr zu eng wurde, weil sie sich, seitdem sie bewusst denken konnte, permanent vor der Qual geschützt hatte, ihre Eltern zu vermissen. Oder der Grund lag tatsächlich in Lyons Behauptung, sie würde keine Kenntnis darüber besitzen, wer sie wirklich war. Zumindest hatte Gott sie beschützt, auch nachdem sie die Sicherheit des Klosters in Maine hinter sich gelassen hatte. Naives Mädchen allein in New York, wohl kein Bestsellertitel. Nun ja, wer sich in Gefahr begab, kam häufig darin um.
Adina durchquerte mit einem Grausen in den Gliedern den Kreuzgang. Schlagartig verharrte sie. Dies stellte einen Abschied dar. Womöglich für immer? Falls ihre dämonischen Verwandlungen weiter fortschritten auf jeden Fall. Sie kehrte dem Zuhause den Rücken, in dem man sie mit offenen Armen und Herzen empfing, egal, was ihr Leben für Überraschungen parat gehalten hatte. Die neuen Fähigkeiten machten ihre Zukunftsplanungen komplett zunichte. Wahrscheinlich würde sie niemals als Neonatologin arbeiten. Ihre Kehle schnürte sich zu. Konnte sie das zulassen? Hatte sie eine Wahl? Zitternd ging sie auf das Portal zu, zum Seiteneingang der Kirche, wo sich die Büros befanden. Sie rief ein Taxi und lief ihm fröstelnd auf einsamem Weg entgegen.
4.9.2012 - Provinz Québec , Kanada
D
er Wasserkessel pfiff. Zymon-Ki legte das Science Magazin auf die Sessellehne, schlüpfte in die Pantoffeln und ging in die kleine, gemütliche Küche. Er goss japanischen Matcha in einer Schale auf und rührte ihn schaumig. Dazu gönnte er sich einen Bagel mit Lachs und Frischkäse. Er trat auf die Holzveranda hinaus , setzte sich in seinen Schaukelstuhl und stemmte die Füße gegen die rustikale Brü s tung. Die Sonne berührte die Kronen der mächtigen Edeltannen, verströmte ein weiches Zwi e licht. Er liebte die Stille der Natur, die Einfachheit seines Lebens. Nur sie ve r drängten die Dämonen der Vergangenheit.
Abgeschiedenheit sollte seine letzten Jahre erträglich machen. Er hatte nicht vor, sich in Träumereien zu verlieren, an seine Heldentaten zurückzudenken, an die Ehre, als ihm der Adelstitel Ki verliehen worden war oder daran, noch Spannendes oder Gefährliches zu erleben. Oh nein, vor Jahrzehnten war er in Rente gegangen, wie die Menschen sagen würden, und verschwendete keinen Gedanken mehr an seine Karriere als Kopfgeldjäger, die ihm, wie es aussah, nicht nur Geld und Ruhm, sondern auch desaströse Nachwirkungen beschert hatte.
Zymon-Ki stellte die Teeschale beiseite und zupfte ein welkes Blatt aus der Geranienampel. Ein Lächeln huschte über sein Gesicht, als er einen Wei ß kopfseeadler seine weiten Kreise über dem nahe gelegenen Bergsee ziehen sah. Ein Förster spazierte in einiger Entfernung auf dem Trampelpfad, auf den sich selten jemand verirrte, der in den Laurentian Mountains wanderte. Er winkte dem Forstmann zu, der ihn nur unter dem englisch ausgesprochenen Rufn a men ‚Simon, the escapist‘, Simon, der Aussteiger, kannte. Sollten sie von ihm denken, was
Weitere Kostenlose Bücher