Lyon - A.M.O.R. 01
gesehenen und gefühlten Erlebnisse über den Kopf.
Adina erhob sich, ein Luftzug streifte sie und sämtliche Lichter gingen sy n chron aus.
6.9.2012 - Maine
S
tille. Adina lauschte, doch sie vernahm nichts, was verriet, wo sie sich befand. Der Geruch glich dem alter, modriger Gemäuer. Trockenes Laub rutschte mit Windböen über harten Untergrund, und entfernt vernahm sie Vogelschwärme. Sie fühlte sich erschlagen und verwirrt, war aber in keiner Weise verwundet. Nur ihr Knöchel pochte. Sie horchte angestrengt und entschied, lange genug die Bewusstlose gespielt zu haben.
Sie war allein und setzte sich auf der verwitterten Pritsche auf. Der Raum war rund, keine fünf Meter im Durchmesser. Wie die Decke und der Boden waren auch die Mauern aus dicken Felsquadern erbaut. Durch zwei offene Fensterluken pfiff ein kühler Wind. Irgendwer hatte sie in einem Turmzimmer eingesperrt.
Adina fuhr sich über die Stirn. Sie fühlte sich zwar äußerlich eiskalt, aber innerlich glühte sie. Das Fieber kam zurück. Sie rieb sich das Brustbein und griff sich ins feuchte Haar. Lange war sie also nicht ohnmächtig gewesen. Oder der Entführer hatte ihr den Kopf gewaschen. Sie verzog den Mund über ihren Galgenhumor. Die Situation war zu ernst, um Witze zu reißen. Sie sollte ihren Mut zusammennehmen und sich etwas einfallen lassen. Adina strich sich über die glühenden Wangen und beschwor sich, sich zu konzentrieren. Wer hatte sie ausgeknockt? Lyon oder der andere? Ihr Gefühl sagte, Eminenz Salassar hatte sie betäubt, doch der merkwürdige Aufenthaltsort ließ eher auf den anderen schließen. Sie hoffte, dem Amorphen ging es gut, auch wenn sie ihm die Pest an den Hals wünschte. Seit seinem Erscheinen war nichts mehr wie vorher, wegen ihm verkomplizierte sich ihr Leben weiter und weiter und weiter.
Adina stand auf und schritt den Raum ab. Der Blick durch die rechteckigen Fensterlöcher verriet, was sie befürchtet hatte. Man hatte sie in einem Turmverlies eingekerkert. Fantastisch, der Albtraum endete wohl nie. Die Bodenluke war verriegelt und weder das Holz noch die Scharniere wollten sich lockern, biegen oder überreden lassen, ihr behilflich zu sein. Blieben nur die Steinrahmenfenster für eine Flucht. Oberschenkeldicke Felsquader formten das rechteckige Loch.
Sie war nicht der Typ, der auf den Henker wartete. Mühsam schob sie sich auf einem Arm liegend Stück für Stück in den Spalt, zwängte sich seitlich hindurch. Ihre Brüste quetschten ihr den Brustkorb, das Atmen fiel schwer. Endlich ragte ihr Kopf hinaus. Ein seltsamer Nebel waberte in einiger Entfernung unter ihr, versagte es, Erdboden oder andere Gebäude zu entdecken, die einen Turm normalerweise umgaben. War sie in einer Burg gefangen? Es sah aus, als wäre der hohe Turm umgeben von heißen Quellen oder stünde auf einem Gletscher in den Wolken. Sie starrte die senkrechte Mauer hinab. Schwindel überfiel sie, ihr leerer Magen drehte sich. Sie zwang sich noch ein wenig weiter, um den Blickwinkel zu verbessern. Ja, ein Stockwerk unter ihr, etwas versetzt, lag ein Fenster. Es sah größer aus als dieses. Adina blinzelte, nahm nochmals Augenmaß und zwängte sich zurück.
Sie ging gleich ans Werk. Mit einem spitzen Stein trennte sie den Pritschenstoff von den Stangen, schnitt ihn in Streifen und flocht jeweils drei zusammen. Das Zertrümmern des Gestells gab ihr weiteren Mut. Sie knotete zwei Stäbe an die Enden des etwa viereinhalb Meter langen Seils, prüfte die Reißfestigkeit. Doch wissen, ob es sie tatsächlich hielt, würde sie erst, wenn sie daran hing. Sie humpelte auf den Fensterspalt zu und quetschte sich erneut hindurch, dieses Mal mit den Füßen voran und mit dem um ihre Mitte geschlungenen Strang.
Als ihre Beine hinausragten, zog sie den Strick straff, bis sich die Eisenstangen im Raum quer vor die Öffnung legten. Die Enge verursachte Beklemmungen und Erstickungsängste, doch sie schob sich weiter. Langsam ließ sie ihren Oberkörper hinausrutschen, bis sie sich nur noch mit den Fingern an der Kante festhielt. Zum Umkehren war es jetzt zu spät. Ihre Nase klebte vor der verwitterten Außenmauer des hohen Turms. Sie griff nach dem Seil, wickelte es sich etwas tiefer um die Hand, verlagerte ihr Gewicht, sodass fast die Sehnen zerrissen, und ließ sich hinunter. Stück für Stück. Adina zitterte vor Anstrengung, als ihre Sohle den Sims des unterhalb liegenden, leicht zur Seite versetzten Fensterspalts ertastete. Sie zog sich heran, schwang
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